- Im Video: „13 Symptome können Krebs bedeuten – wann Sie zum Arzt sollten“
Vormittags noch munter und leistungsfähig, nachmittags wie leergepumpt. Und beim Wandern auf einmal so erschöpft, dass es unmöglich wird, weiterzugehen. „Mein Mann musste das Auto holen, um mich heimzufahren“, berichtet Ilona Beyer über ihre beängstigende Müdigkeit. Die Mitte 60-Jährige war bis dahin extrem aktiv, als selbständige Eventmanagerin und Trainerin häufig unterwegs.
Fatigue eine Nebenwirkung der Krebstherapie?
Anfangs vermuteten sie und die Ärzte, dass diese Erschöpfung Neben- und Nachwirkung einer Krebstherapie sein könnte. Denn wegen Brustkrebs musste Ilona Beyer im Jahr 2006 beruflich pausieren, wurde operiert und bekam unter anderem Strahlentherapie.
Im Zuge der Krebsbehandlung, die sehr gut anschlug, wurde ihr Blut regelmäßig untersucht. Schon damals fiel auf, dass ihre Thrombozyten und Gerinnungsfaktoren erhöht waren, vereinfacht ausgedrückt, das Blut zu dick.
Spezialisten übersahen die deutlichen Hinweise auf Blutkrebs
Der Onkologe schickte sie zur Abklärung zu vier verschiedenen Spezialisten. Doch keiner konnte etwas herausfinden. Immerhin gab ihr einer von ihnen Acetylsalicylsäure (ASS) zur Blutverdünnung.
„Wenn ich heute die Blätter mit den Blutergebnissen von damals anschaue, schrillen bei mir alle Alarmglocken – wie konnte man mich mit diesen Werten einfach wieder nach Hause schicken?“, kritisiert sie.
Hausarzt gab den Anstoß für weitere Untersuchungen
Aufgeben, weil die Ärzte keine Erklärung für die ständige Müdigkeit fanden, war für die taffe Managerin jedoch keine Option. Sie recherchierte im Internet und langsam festigte sich bei ihr der Verdacht, dass sie vielleicht Blutkrebs haben könnte. Bestätigt wurde ihre Annahme 2013 – nach mindestens sieben Jahren Krankheit.
Ihr Hausarzt wollte ihre Blutwerte genauer abklären lassen und überwies sie zu einem weiteren Onkologen. Der Krebsspezialist führte zusätzliche Bluttests durch und schickte die Proben in ein Münchner Leukämielabor. Dann stand die Diagnose fest: Polycythaemia vera (PV).
Bösartiger Blutkrebs erzeugt zu viele Blutzellen
Die Erkrankung zählt zu den so genannten myeloproliferativen Neoplasien (MPN), einer seltenen Gruppe bösartiger Blutkrebserkrankungen. Die Ursachen für PV: Eine nicht erbliche, genetische Veränderung in den blutbildenden Zellen im Knochenmark.
So als wäre ein Schalter falsch umgelegt, werden im Knochenmark zu viele Blutzellen produziert, vor allem rote Blutkörperchen (Erythrozyten). Der Hämatokritwert steigt deutlich. Hämatokrit ist der Anteil der Blutzellen in Relation zum Blutvolumen.
Chronischer Blutkrebs PV ist nicht harmlos
Anfangs hat das wenig Auswirkungen. Auf Dauer wird jedoch das Blut zähflüssig. Unbehandelt steigt das Risiko für Thrombosen, Schlaganfall und Herzinfarkt dramatisch. Diese Ereignisse sind Ursache für jeden zweiten Todesfall von PV-Patienten.
Außerdem kann Polycythaemia vera in eine Form der akuten Leukämie übergehen. Richtig behandelt, wird PV jedoch eine chronische Krankheit, mit der sich gut leben lässt, wie Ilona Beyer aus ihrer Erfahrung sagen kann.
Ärzte übersahen deutliche Hinweise im Blutbild
„Aber was mich heute noch wütend macht: Warum hatte keiner der Ärzte, die ich zuvor konsultiert hatte, diese Bluttests gemacht, die eindeutig das typische Ungleichgewicht der Blutbestandteile und die Genänderung nachweisen können – und damit rasch die Diagnose liefern?“, fragt sie sich. Dabei steht ihr Fall exemplarisch für viele Blutkrebspatienten.
Symptome bei PV zu unspezifisch, nur Bluttest eindeutig
Denn allein durch die äußeren Anzeichen lässt sich kaum auf PV schließen. Antriebsschwäche bis Fatigue, aber auch Schmerzen und Juckreiz sind sehr unspezifische Symptome und können bei sehr vielen Krankheiten auftreten.
Deshalb verstreichen oft viele Jahre bis zur Diagnose Polycythaemia vera. So verrinnt wertvolle Zeit, die für eine Therapie genutzt werden könnte und verhindert, dass die Flut an Blutzellen gedrosselt wird, sich lebensgefährliche Blutgerinnsel und Plaques bilden.
Behandlung bei Polycythaemia vera – „Sind Sie jetzt der Arzt oder ich?“
Erste Wahl der Behandlung bei PV ist Aderlass, und damit startete auch die Therapie bei Ilona. Gerade zu Beginn der Krankheit kann diese alte Methode den Hämatokritwert deutlich senken. Doch bei Ilona Beyer blieb die Wirkung hinter den Erwartungen zurück, die Krankheit hatte sich schon zu sehr etabliert.
Was noch dazu kam: „Und mit der zu hohen Blutmenge hatte ich auch viel Adrenalin im Blut, wurde aggressiv.“ Gleichzeitig wollte der Arzt ihr Eisen geben – in ihrem Fall kontraproduktiv. So kam es zu Problemen zwischen Patientin und Arzt, die mit dessen Bemerkung gipfelte: „Sind jetzt Sie der Arzt oder ich?“
Gezieltes Nachfragen wichtig für Blutkrebs-Symptome
Ilona brach die Behandlung dort ab und informierte sich weiter, wandte sich an ein Kompetenzzentrum für myeloproliferative Neoplasien (MPN). Dort fand sie endlich die richtigen Behandler.
Neben Bluttests stehen hier ausführliche Befragungen nach den Symptomen im Vordergrund. Dabei kann auch das Umfeld des Patienten, etwa der Partner, zu Wort kommen. Gerade, weil die Symptome so unspezifisch sind, ist das sorgfältige Nachfragen so wichtig.
Medikament bremst die Überflutung mit Blutzellen
Nach diesen eingehenden Untersuchungen stand die Behandlung fest. „Seit 2017 nehme ich ein Medikament mit sogenannten JAK-Inhibitoren zweimal täglich ein – und habe mich deutlich erholt“, berichtet sie über den Therapieerfolg.
Der Wirkstoff ist erst seit rund zehn Jahren in Deutschland zugelassen und unterbricht den Signalweg, der die ständige Überaktivität der blutbildenden Zellen auslöst.
Wirksam, aber auch Nebenwirkungen
Allerdings wird dabei als Nebenwirkung auch die Immunkraft etwas herabgesetzt, womit die Patientin aber gut umgehen kann. So spricht sie offen über eine Lungenentzündung, wegen der sie wenige Tage stationär behandelt werden musste – eine Nebenwirkung der Immunsuppression. Übrigens nahm sie, in Absprache mit ihrem Ärzteteam aus dem Kompetenzzentrum, auch während der Behandlung im Krankenhaus ihre Tabletten ein, aber die halbe Dosis. Die zweite Nebenwirkung des Medikaments ist Gewichtszunahme. Mit Ernährungsumstellung hat sie 17 Kilo Übergewicht abgebaut.
„Das Medikament hat mir die Lebensqualität zurückgegeben“
Doch das Wichtigste: Die Krankheit ist gestoppt, die regelmäßig kontrollierten Blutwerte liegen fast im Normalbereich. Die Thrombozyten sind zwar immer noch etwas erhöht, aber nicht mehr so dramatisch wie vor Beginn der Therapie.
Deshalb nimmt sie zur Blutverdünnung täglich ASS ein. Und sie fühlt sich wieder richtig fit. Die wirklich bleierne Müdigkeit, die Fatigue, hat sich aufgelöst. „Das Medikament hat mir die Lebensqualität zurückgegeben“, lautet ihr Fazit.
Glücksfall Ärzte mit Erfahrung und mit aktuellem Wissen
Anderen Betroffenen kann sie nur raten, sich nicht zufriedenzugeben, wenn trotz belastender Symptome Ärzte nichts feststellen. Allerdings ist nicht jeder so eine Kämpfernatur wie Ilona, und kann sich durch Eigenengagement sein altes Leben zurückerobern.
Deshalb lautet ihr Rat, sich an die richtigen Spezialisten zu wenden. In ihrem Fall, wie sie betont, an ein Kompetenzzentrum für Hämatologie. Das ist ein Zusammenschluss von Experten für Erkrankungen des Bluts. Hier kann man davon ausgehen, dass die Behandler Erfahrung haben und auf dem neuesten Stand der Medizin sind. Ihr positiver Blick in die Zukunft: „Deshalb freue ich mich auch so über das neue Krankenhausgesetz, weil es uns Patienten ermöglicht, bei den Krankenhäusern heraus zu finden, wer eine gewisse Kompetenz hat.“
Mehr Info unter https://www.mpn-netzwerk.de/