Mülheim. Stimmbildung, Rythmusgefühl, Notenlesen: Die Mülheimer Singschule unterrichtet Kinder und Jugendliche in Gesang. Ein Blick in die Proben.
Am Pastor-Barnstein-Platz dämmert es schon, bevor die Kirchglocke fünf schlägt. Die letzten Blätter einer Eiche rascheln im Wind, gelegentlich hallen eilige Schritte über das Pflaster, ein einsamer Vogel zwitschert. Die Petrikirche liegt ruhig, von draußen ist kein Mucks zu hören.
Doch ein Blick durch die Seitentür verrät: Hier herrscht noch Betrieb. Die Zimbalisten, Wichtel und der Mädchen-B-Chor proben das Krippenspiel. Es ist der erste Durchlauf mit Requisiten, Kinder wedeln mit Geschenkattrappen und aus Pappe geschnittenen Figuren an Holzstöcken in der Luft herum.
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Vor einem riesigen geschmückten Weihnachtsbaum treten sie von einem Bein aufs andere und einander auf die Füße, zuppeln an ihren weißen Hemdchen oder setzen sich auf den kühlen Kirchboden. „Königin, möchtest du dich langsam ordentlich hinstellen? Gleich beginnt dein Auftritt“, erinnert Sonja Schwechten ein Mädchen. Hier steht niemand in Reih und Glied, doch sobald die Musiklehrerin ihre Hand zum Kommando erhebt, sitzen die Töne. Die Münder wie zu einem langen Schrei geöffnet, aus ihnen hallen weihnachtliche Töne durch das gotische Gebäude. Der Gesang der 5- bis 12-Jährigen tönt wahlweise sanft wie fallender Schnee oder laut und kraftvoll.
Singschule an der Petrikirche Mülheim: Stimmbildung, Rhythmusgefühl und Notenlesen
„Wir fangen früh an“, sagt Christoph Gerthner. Der Kantor leitet die Singschule an der Petrikirche seit vergangenem Jahr und war anfangs überrascht vom Talent der Sängerinnen und Sänger: „Mit Kindern und Jugendlichen kommt man viel schneller auf ein professionelles Niveau als mit Erwachsenen.“ Das liege daran, dass Kinder noch ungehemmt sind. „So ist es ganz einfach, das Singen in der Höhe freizulegen“, sagt Gerthner.
Seit 20 Jahren werden in der Mülheimer Singschule Kinder ab drei Jahren nach englischem Modell ausgebildet: Abgekupfert von der Royal School of Church Music (RSCM) in Salisbury, werden die 160 Mädchen und Jungen in verschiedene Gruppen eingeteilt. Die Kleinsten fangen mit drei Jahren bei den Spatzen an, werden mit fünf Jahren zu Wichteln, treten während der ersten Klasse dem Zimbalistenchor bei und steigen später in den B- und schließlich den A-Chor auf. Um die verschiedenen Niveaus zu erreichen, müssen sie eine Prüfung ablegen. Die sieht man an der Singschule aber recht locker: „Irgendwann kommen alle weiter“ – und erhalten nach Vorbild der RSCM farbige Bändchen für den jeweiligen Chor.
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Ohnehin ist Gerthner der Meinung: „Jedes Kind kann lernen zu singen.“ Erst im Lauf des Lebens fingen sich Menschen Verspannungen und „psychische Verstimmtheiten“ ein, die sie fortan hemmen. Die Ausbildung an der Singschule soll das verhindern: Hier lernen Kinder in ihrer Freizeit in Einzel- und Gruppenstunden das Notenlesen, bilden ihre Stimme aus und setzen sie in Chören ein. „Die intensive Stimmbildung und das Rhythmusgefühl und Notenverständnis der Schülerinnen und Schüler hebt uns von gewöhnlicher musikalischer Kinder- und Jugendarbeit ab“, sagt der Kantor.
Magische Gesangseinlage der Mülheimer Singschülerinnen
Die Früchte der Arbeit zeigen sich im Nebengebäude. Während in der Petrikirche nach absolvierter Probe fröhliche Aufbruchsstimmung herrscht, geht es im Kirchenhaus konzentriert zu. Im Gesangssaal wärmt sich der Mädchen-A-Chor auf. Gerthner sitzt am Klavier, die Mädchen stehen in einem Halbkreis ihm zugewandt an hölzernen Notenständern. Ihre Stimmen verschmelzen zu einer, schwingen als „Mo-mo-mo-mo“ und „zui-ui-ui-ui“ durch den hellen Raum. „Der Kiefer fällt“, erinnert der Kantor und die Mädchen lassen die Münder locker, der Ton wird klarer, Gerthner wirkt zufrieden. Hinter ihm reicht ein Regal mit Noten bis zur Decke.
„Eine Quarte nach unten, einen Dreiklang nach oben, eine große Terz nach oben“: Die Mädchen wissen bei allen Termini genau, was von ihnen gewollt wird, üben sie doch seit frühster Kindheit. Magisch wird es, als die Sängerinnen „Carol of the Bells“ intonieren. Die ganze Kraft ihrer Stimmen füllt plötzlich den Raum, die Töne schmiegen sich aneinander. Glöckchen läuten in in den Melodien, märchenhafte Weihnachtsszenerien entspringen dem Gesang: ein Pferdeschlitten auf schneebedecktem Asphalt, Familien unter einem Christbaum, strahlende Lichter.
Es ist die vorletzte Probe vor dem großen Auftritt im Weihnachtsgottesdienst an Heiligabend. Dann füllen die Melodien der Mädchen das Kirchenschiff, die Kleinen erzählen ihre musikalische Weihnachtsgeschichte und auch das Publikum darf immer mal wieder mitsingen – obwohl es nicht geübt hat.