Forscher haben einen äußerst exotischen Materiezustand geschaffen. Seine Atome haben einen hundertmal größeren Durchmesser als gewöhnlich.
Zeitkristalle, ursprünglich 2012 vom Nobelpreisträger Frank Wilczek vorgeschlagen, wurden nun mit theoretischer Unterstützung der TU Wien in Österreich erfolgreich mit Rydberg-Atomen und Laserlicht an der Tsinghua-Universität in China hergestellt. Dieser neue Zustand der Materie wiederholt sich nicht im Raum wie bei herkömmlichen Kristallen, sondern im Laufe der Zeit und zeigt spontane periodische Rhythmen ohne äußeren Reiz, ein Phänomen, das als spontane Symmetriebrechung bekannt ist.
Ein Kristall ist eine Anordnung von Atomen, die sich im Raum in regelmäßigen Abständen wiederholt: An jeder Stelle sieht der Kristall genau gleich aus. Im Jahr 2012 stellte Nobelpreisträger Frank Wilczek die Frage: Könnte es auch einen Zeitkristall geben – ein Objekt, das sich nicht im Raum, sondern in der Zeit wiederholt? Und könnte es sein, dass ein periodischer Rhythmus entsteht, obwohl dem System kein bestimmter Rhythmus vorgegeben ist und die Wechselwirkung zwischen den Teilchen völlig unabhängig von der Zeit ist?
Die Idee von Frank Wilczek sorgt seit Jahren für heftige Kontroversen. Einige hielten Zeitkristalle für prinzipiell unmöglich, während andere versuchten, Schlupflöcher zu finden und Zeitkristalle unter bestimmten besonderen Bedingungen zu realisieren. Nun ist es mit Unterstützung der TU Wien in Österreich gelungen, an der Tsinghua-Universität in China eine besonders spektakuläre Art von Zeitkristall herzustellen. Das Team nutzte Laserlicht und ganz besondere Atomarten, nämlich Rydberg-Atome, deren Durchmesser mehrere Hundert Mal größer als normal ist. Die Ergebnisse wurden jetzt in der Fachzeitschrift Nature Physics veröffentlicht.
Spontaner Symmetriebruch
Auch das Ticken einer Uhr ist ein Beispiel für eine zeitlich periodische Bewegung. Allerdings passiert das nicht von alleine: Jemand muss die Uhr zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgezogen und in Gang gesetzt haben. Diese Startzeit bestimmte dann den Zeitpunkt der Ticks. Anders verhält es sich mit einem Zeitkristall: Nach Wilczeks Vorstellung soll eine Periodizität spontan entstehen, obwohl es eigentlich keinen physikalischen Unterschied zwischen verschiedenen Zeitpunkten gibt.
„Die Tick-Häufigkeit wird durch die physikalischen Eigenschaften des Systems vorgegeben, aber die Zeitpunkte, zu denen der Tick auftritt, sind völlig zufällig; das nennt man spontane Symmetriebrechung“, erklärt Prof. Thomas Pohl vom Institut für Theoretische Physik der TU Wien.
Thomas Pohl leitete den theoretischen Teil der Forschungsarbeiten, die nun zur Entdeckung eines Zeitkristalls an der Tsinghua-Universität in China führten: Laserlicht wurde in einen Glasbehälter gestrahlt, der mit einem Gas aus Rubidiumatomen gefüllt war. Gemessen wurde die Stärke des Lichtsignals, das am anderen Ende des Behälters ankam.
„Eigentlich handelt es sich hierbei um ein statisches Experiment, bei dem dem System kein bestimmter Rhythmus vorgegeben wird“, sagt Thomas Pohl. „Die Wechselwirkungen zwischen Licht und Atomen sind immer gleich, der Laserstrahl hat eine konstante Intensität. Doch überraschenderweise stellte sich heraus, dass die Intensität, die am anderen Ende der Glaszelle ankommt, in sehr regelmäßigen Mustern zu schwingen beginnt.“
Riesige Atome
Der Schlüssel zum Experiment lag in einer besonderen Vorbereitung der Atome: Die Elektronen eines Atoms können den Kern auf unterschiedlichen Bahnen umkreisen, je nachdem, wie viel Energie sie haben. Wird dem äußersten Elektron eines Atoms Energie zugeführt, kann dessen Abstand vom Atomkern sehr groß werden. Im Extremfall kann er mehrere Hundert Mal weiter vom Kern entfernt sein als üblich. Auf diese Weise entstehen Atome mit einer riesigen Elektronenhülle – sogenannte Rydberg-Atome.
„Wenn die Atome in unserem Glasbehälter in solchen Rydberg-Zuständen präpariert werden und ihr Durchmesser riesig wird, dann werden auch die Kräfte zwischen diesen Atomen sehr groß“, erklärt Thomas Pohl. „Und das wiederum verändert die Art und Weise, wie sie mit dem Laser interagieren. Wählt man Laserlicht so, dass es in jedem Atom gleichzeitig zwei unterschiedliche Rydberg-Zustände anregen kann, dann entsteht eine Rückkopplungsschleife, die spontane Schwingungen zwischen den beiden Atomzuständen hervorruft. Dies wiederum führt auch zu einer oszillierenden Lichtabsorption.“ Ganz von selbst stolpern die Riesenatome in einen regelmäßigen Takt, und dieser Takt wird in den Rhythmus der Lichtintensität übersetzt, die am Ende des Glasbehälters ankommt.
„Wir haben hier ein neues System geschaffen, das eine leistungsstarke Plattform zur Vertiefung unseres Verständnisses des Zeitkristallphänomens bietet und der ursprünglichen Idee von Frank Wilczek sehr nahe kommt“, sagt Thomas Pohl. „Präzise, autarke Schwingungen könnten beispielsweise für Sensoren genutzt werden. Riesenatome mit Rydberg-Zuständen wurden für solche Techniken bereits in anderen Zusammenhängen erfolgreich eingesetzt.“
Referenz: „Dissipative time crystal in a stark interagierenden Rydberg-Gas“ von Xiaoling Wu, Zhuqing Wang, Fan Yang, Ruochen Gao, Chao Liang, Meng Khoon Tey, Xiangliang Li, Thomas Pohl und Li You, 2. Juli 2024, Nature Physics.
DOI: 10.1038/s41567-024-02542-9