Nach der Veröffentlichung ungeschwärzter Dokumente über die Sitzungen des Corona-Krisenstabs beim Robert Koch-Institut (RKI) sehen sich manche Kritiker der Corona-Politik bestätigt in ihrere Vermutung, dass Erkenntnisse zurückgehalten wurden. Es heißt etwa , aus einer Stelle in den Dokumenten gehe hervor, dass der Berliner Virologe Christian Drosten „medizinische Informationen unterdrückt“ habe, um unter anderem Lockdowns zu ermöglichen. Dabei geht es vor allem um ungezielte PCR-Tests.
Bewertung
Die Zitate aus den RKI-Protokollen sind echt. Wenige Tage nach der RKI-Sitzung veröffentlicht Drosten aber einen Gastbeitrag in der „Zeit“ zu genau diesem Thema. Darin spricht er sogar über Strategien zur Vermeidung von Lockdowns.
Fakten
Im Mai hatte das RKI die Protokolle des Corona-Krisenstabs aus der Zeit von Januar 2020 bis April 2021 veröffentlicht . Dort sind nur personenbezogene Daten sowie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Dritter geschwärzt. Beabsichtigt ist in Kürze auch eine Veröffentlichung der restlichen Protokolle (Mai 2021 bis Juli 2023).
Eine Gruppe um eine Kritikerin der Corona-Politik der Bundesregierung hat nun die komplett ungeschwärzten Unterlagen online gestellt und am 23. Juli 2024 in einer Pressekonferenz vorgestellt . Das RKI hat eigenen Angaben zufolge diese Datensätze weder geprüft noch verifiziert.
Was Drosten vorgeworfen wird
Verbreitet wird aus diesen komplett ungeschwärzten Unterlagen nun unter anderem der kleine Screenshot eines RKI-Dokuments vom 29. Juli 2020. Unter der Überschrift „RKI-Strategie Fragen“ heißt es dort über einen Textentwurf Drostens mit Empfehlungen für den seinerzeit bevorstehenden Herbst: „Der Artikel ist vertraulich. Hr. (Herr) Drosten hat zwischenzeitlich entschieden, das Papier nicht zu publizieren, da ungezielte Testung im Text als nicht sinnvoll betrachtet wird und dies dem Regierungshandeln widerspricht.“
Während der Corona-Pandemie hatten Menschen über Monate immer wieder sogenannte PCR-Tests durchgeführt, um herauszufinden, ob sie mit dem Covid-19-Erreger infiziert sind und andere möglicherweise anstecken könnten.
Die Passage über Drosten ist auch in den bereits vom RKI veröffentlichten Protokollen zu finden darin ist Drostens Name allerdings geschwärzt.
Was der Screenshot aus dem RKI-Protokoll weglässt
Was genau in Drostens Textentwurf behandelt werden soll, steht auch im RKI-Dokument – ist aber im online verbreiteten Screenshot abgeschnitten. Demnach plädierte Drosten dafür, in der Kontaktnachverfolgung die Herkunft einer Corona-Infektion näher in den Blick zu nehmen. Als Vorbild dafür gelte Japan.
Damals wurden in Deutschland Personen informiert und isoliert (Quarantäne), die mit einem infizierten Patienten während der Ansteckungszeit in Kontakt waren und eine Infektion möglicherweise hätten weitertragen können. Seinerzeit wurden PCR-Tests für den Nachweis herangezogen, Antigen-Schnelltests gab es noch nicht flächendeckend.
Das RKI-Protokoll vom 29. Juli 2020 umreißt Drostens Ansatz weiter: Um die Herkunft der Infektion zu untersuchen, plädiere er für ein Identifizierung von Clustern – also besonderer Umgebungen, in denen sich das Virus hat ausbreiten können. So könnten etwa Klavierstunden Auslöser eines Clusters sein, heißt es. „Großzügige und rasche Quarantänisierung der Mitglieder von Clustern ohne vorheriges Testen“, wird im RKI-Protokoll eine Maßnahme umschrieben.
Drosten hat seine Aussagen in der „Zeit“ veröffentlicht
Ein Blog-Artikel behauptet nun, „jenen fraglichen Drosten-Artikel“, der „als vertraulich eingestuft wird und der nicht publiziert wurde, weil der Text dem Regierungshandeln widersprach“, im geleakten RKI-Zusatzmaterial gefunden zu haben.
Doch seine Gedanken hat Drosten mitnichten bewusst unterdrückt. Denn es gibt öffentliche Beiträge des Wissenschaftlers aus der damaligen Zeit zu eben jenem Thema.
Die Angaben in einem Gastbeitrag Drostens in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 5. August 2020 – also wenige Tage nach der RKI-Sitzung am 29. Juli – decken sich fast wortgleich mit denen im RKI-Protokoll:
- Drosten schrieb, das Virus sei mit der ersten Welle in die Bevölkerung eingedrungen und werde sich mit der zweiten Welle aus der Bevölkerung heraus verbreiten.
- Es gebe unterschiedliche Übertragungswege: Manche Infizierte stecken möglicherweise nur eine weitere Person an, andere aber viele weitere. Im zweiten Fall komme es „zu einer Mehrfachübertragung, zu einem Cluster“, heißt es im „Zeit“-Text. Gerade diese trieben die Pandemie an.
- „Es hilft ein Blick nach Japan“, schrieb Drosten weiter. Statt viel und ungezielt zu testen, habe das Land früh darauf gesetzt, Übertragungscluster zu unterbinden. „Die Gesundheitsbehörden suchen in der Kontakthistorie eines erkannten Falls gezielt nach bekannten Clusterrisiken.“
- Er kam explizit zu dem Schluss: „Die gezielte Eindämmung von Clustern ist anscheinend wichtiger als das Auffinden von Einzelfällen durch breite Testung.“ Die vielen Tests, die die Politik seinerzeit vorbereite, würden bald öfter positiv ausfallen und die Gesundheitsämter überfordern. „Schließlich kann man das Virus ja nicht wegtesten, man muss auf positive Tests auch reagieren.“
Drostens Ideen zur Lockdown-Vermeidung auch im NDR-Podcast
Auch im Podcast Corona-Update des NDR vom 1. September 2020 blickte Drosten auf den Herbst und erläuterte die Cluster-Strategie. „Wenn wir uns die Testzahlen anschauen, die sind sehr, sehr hoch“, sagte er dort. „Die treiben die medizinischen Labore an die Belastungsgrenze und wir finden eigentlich sehr, sehr wenig Positive.“
Drosten sah demnach im Vorbild Japans eine Chance, künftige Lockdowns zu verhindern – also das genaue Gegenteil dessen, was ihm nun in den sozialen Medien vorgeworfen wird.
Im NDR-Podcast nahm er damals ausführlich Stellung: „Wie kann man ohne einen Lockdown, auch ohne einen regionalen Lockdown – wir wollen das alle verhindern – ein paar positive Ideen als Strategie zusammenfassen, um zu sagen, es gibt auch einen Ausweg, es gibt auch eine andere Möglichkeit, mit dem Dilemma umzugehen, ohne Lockdown?“, fragte er. Und antwortete dann selbst: „Wir wissen, diese Erkrankung verbreitet sich zu einem großen Teil in Clustern. Und es gibt ein Handlungsmodell, das ist die japanische rückblickende Cluster-Strategie.“
Auch in Drostens Beitrag für die „Zeit“ steht: „Die Treiber der Epidemie aufspüren, die Quarantäne verkürzen, die Tests genauer auswerten – mit dieser Strategie können wir in einer zweiten Welle verhindern, dass es zu einem erneuten Lockdown kommt.“
Drosten hat nicht an der RKI-Sitzung teilgenommen
Wie es zu dem Vermerk im RKI-Protokoll gekommen sei, er werde das Papier nicht publizieren, sei ihm nicht klar, sagt Drosten rückblickend im Juli 2024 der „Süddeutschen Zeitung“ . Es sei möglich, dass der RKI-Protokollschreiber etwas falsch aufgefasst oder jemand falsch aus einem Gespräch mit ihm berichtet habe.
Persönlich ist Drosten eigenen Angaben zufolge an der damaligen Sitzung nicht zugegen gewesen. Das entspricht auch der Teilnehmerliste im Protokoll: Er wird dort nicht aufgeführt. Auch gegen eine Entschwärzung seines Namens in der Unterlage habe er bereits vor Wochen nichts einzuwenden gehabt, so Drosten in der „Süddeutschen Zeitung“.