Berlin. Wenn dem Partner in der Beziehung etwas fehlt, kratzt das am Selbstwert. Ein Therapeut erklärt, welche Fragen nun große Wirkung haben.
„Das Kunststück, in der Liebe zufrieden und glücklich zu bleiben, besteht darin, nie zu vergessen, dass Sie und Ihr Partner sich kontinuierlich weiterentwickeln und daher immer in den Prozess eingebunden sind, einander neu kennenzulernen, auch wenn Sie seit einem halben Jahrhundert oder länger zusammen sind.“
So schreibt es Stephanie Cacioppo in Ihrem Buch „Warum wir lieben“. Sie ist eine der führenden Neurowissenschaftlerinnen auf dem Gebiet sozialer Beziehungen und lehrt an der Universität von Chicago. Gemeint ist, dass wir uns – genau wie unser Partner oder unsere Partnerin – ständig verändern, dazulernen, Haltungen überdenken, neue Erfahrungen machen, die uns prägen. Und das wirkt sich unvermeidlich auf die Partnerschaft und die Beziehungsdynamik aus.
Das kennen auch meine Frau und ich aus unserer Beziehung. Nachdem wir in den ersten Phasen unseres Paarseins mit den Jahren alle Höhen und Tiefen bewältigt hatten, blieben wir nicht stehen, sondern stolperten mit unserer Beziehung in die Phase der Individualisierung.
Plötzlich war es wieder wichtig, das Ich, die Autonomie in den Vordergrund zu stellen. Meine geliebte Frau und Kollegin legte auf einmal Wert darauf, beinahe täglich – so fühlte es sich für mich an – die Frage zu stellen, wo sie denn bliebe? Unser Konstrukt, das „Ich im Wir“ wurde von heute auf morgen zu einem gefühlten „nur noch Ich“.
Rückt das Ich in den Vordergrund, kann sich der Partner bedroht fühlen
Durch unseren Alltag als Eltern, als Großeltern und als selbständiges Therapeutenpaar mit eigener Praxis an verschiedenen Standorten fragte sich meine Frau: „Wo bleibe eigentlich ich?“ Mit dieser Frage und ihren Auswirkungen, wie Abgrenzung, Alleinsein wollen und so weiter, konnte ich nicht wirklich viel anfangen. Im Gegenteil: Ich fühlte mich bedroht und zurückgesetzt.
Gisbert Straden & Andrea Katz
Genau wie seine Frau Andrea Katz ist Gisbert Straden ausgebildeter Paar- und Sexualtherapeut. Zuvor war er als Dozent für Wirtschaftspsychologie tätig. Gemeinsam mit seiner Frau, die hauptberuflich als Lehrerin arbeitet, betreibt er die Praxis „Von Paar zu Paar“ in Berlin. In ihrer Beziehungskolumne „Wie Katz und Straden“ beleuchten sie gemeinsam Beziehungsprobleme und suchen nach Lösungen – sowohl aus der Perspektive erfahrener Therapeuten als auch aus ganz persönlicher Sicht, mit eigenen Konflikten und Herausforderung in der Beziehung.
Beziehung: Das steckt hinter dem Wunsch nach Individualisierung
Dabei ist dieses Bedürfnis nach Selbstverwirklichung nicht ungewöhnlich. Spannend dabei: In der Beziehungsphase der Individualisierung geht es meist um den empfundenen Mangel in einem oder mehreren Grundbedürfnissen.
Klaus Grawe, einer der bedeutenden deutschen Psychologen, lehrte an der Universität in Bern und war dort Lehrstuhlinhaber für klinische Psychologie und Psychotherapie. Ihm zufolge haben wir vier psychische Grundbedürfnisse:
- das Bedürfnis nach Bindung
- das Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle
- das Bedürfnis nach Lustbefriedigung und Unlustvermeidung
- das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Anerkennung.
Wenn wir bei einem oder mehreren dieser Bedürfnisse einen Mangel erleben, reagieren wir mit AbgrenzungRückzug oder einem Angriff. In der Phase der Individualisierung geht es vor allem um das Gefühl, die Welt zu verstehen und beeinflussen zu können, und um das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung. Bin ich etwas wert? Bekomme ich für das, was ich tue, wertschätzende Rückmeldungen und Anerkennung? Erleben wir beides nicht, fühlen wir uns unsicher, hilflos und abhängig oder minderwertig.
Partner will öfter allein sein? Diese Fragen sollten Sie stellen
Auch in unserer Beziehung konnten wir das beobachten: den Eindruck, nur noch zu funktionieren und nichts mehr wirklich beeinflussen zu können. Wenig ausgesprochene Anerkennung für die Selbstverständlichkeiten des Alltags, kleine kleinen Gesten, kein „Danke“ oder Ähnliches. Doch ein Mangelerlebnis führt zu Rückzug und Distanz. Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung steigt.
Eine wichtige Erkenntnis für uns war, dieses Mangelempfinden im Alltag frühzeitig anzusprechen und keine Scheu davor zu haben. Wir haben verstanden, dass es um „die ganz normalen“ Themen geht, die es zu bewältigen gilt. Dass es auch und vor allem darum geht, sorgsam im Umgang mit dem Partner zu sein. Ab und an zu fragen „Was brauchst Du? Was fehlt Dir?“. Kleine Fragen mit besonderer Wirkung.
Gibt es etwas aus dieser Phase, wofür wir dankbar sind? Ja. Wir sind dankbar dafür, dass unsere jeweiligen Kinder – insgesamt vier Stück – bereits Mitte oder Ende zwanzig sind und ihr eigenes Leben leben. Wir erleben immer wieder, wie herausfordernd und anstrengend, auch überfordernd, ein Alltag mit Beruf, finanzieller Beanspruchung und Kindern ist. Wir fragen uns manchmal: „Wie haben wir das damals alles geschafft?“ und „Wo sind wir geblieben? Wo bin ich geblieben?“.
So vermeiden Sie die Alltagsfallen in Ihrer Beziehung
Immer wieder erleben wir, dass Paare im Schnelldurchlauf nach einer Online-Kennenlernphase ein Haus kaufen, sich einen Hund anschaffen, im zweiten Jahr ein Kind in die Welt setzen und gleichzeitig ihre jeweiligen Karrieren vorantreiben. „Highspeed-Paare“, die oftmals verkennen, dass Entwicklung und sich aufeinander einstellen in den meisten Fällen Zeit benötigt. Wenn dann durch den brutalen Alltag des Lebens die Ernüchterung eintritt, kommen diese Paare zu uns und wollen in einem letzten Kraftakt eine Paartherapie oder eine Trennungsmediation.
Da wir um diese Dinge wussten, waren wir ein wenig vorbereitet. Entscheidend in dieser Phase war aus unserer Sicht:
- miteinander reden
- Bedürfnisse mitteilen
- Verständnis für die Sicht des jeweils anderen aufbringen
- Klare Regeln im Umgang mit Stressoren
Zudem haben wir für uns geklärt:
- Was sind unsere Stressoren?
- Welche Programme aus der Vergangenheit oder Kindheit laufen gerade ab?
- Wie können wir trotz Alltagsstress kleine Paarzeiten einplanen, einmal in der Woche oder zumindest alle zwei Wochen?
Das geht! Alleine die Beschäftigung mit diesen Fragen hat uns das Durchstehen dieser Phase erleichtert. Am Ende konnten wir sagen: Das Ich hat seinen Platz im Wir wiedergefunden.