Reportage
Nach Rang eins im Halbfinale startet Ricarda Funk als Top-Favoritin in die Entscheidung bei Olympia 2024 im Wasserkanal von Vaires-sur-Marne – und legt dort gut los. Doch dann folgt der schlimmstmögliche Zentimeter-Patzer.
Einmal noch lärmen, einmal noch anfeuern und jubeln auf den Tribünen über dem Wildwasserkanal von Vaires-sur-Marne, das war die Aufgabe für die fast 18.000 Zuschauer auf den Tribünen: Die erste Medaillen-Entscheidung dort, 20 Kilometer östlich von Paris, stand unmittelbar vor ihrem Höhepunkt.
Nur noch Ricarda Funk trieb da oben in ihrem Boot im ruhigen Wasser am Start. Nur noch sie konnte die australische Top-Athletin Jessica Fox vom Goldrang verdrängen. Nur noch sie durfte sich daran versuchen, die furiosen 96,08 Sekunden zu unterbieten, womit sie ihren Olympiasieg von 2021 in Tokio verteidigt hätte. Funk oder Fox? Das war hier die Frage. Die Spannung stieg, Funk schnaufte durch, ehe sie mit den ersten Paddelschlägen die Richtung vorgab. Rein ins wilde Wasser, eins werden mit dem Element.
Funk blickt ungläubig in Richtung Anzeigetafel
Exakt 99,08 Sekunden später war sie im Ziel angekommen. Dann blickte sie auf die Anzeigetafel, schaute ungläubig, schüttelte mit dem Kopf – und musste am Ende fassungslos feststellen, dass sie nur Elfte der zwölf Finalistinnen geworden war.
Sie hatte eine Walze unterschätzt, Tor 20 mit ihrem Helm berührt. Doch statt zwei Strafsekunden standen am Ende 50 zu Buche, die Wertungsrichter bewerteten das Tor gar um Zentimeter verfehlt – der schlimmstmögliche Patzer im Kanuslalom. Zuvor lag Funk zwei Zwischenzeiten lange in Führung, und bei der dritten immer noch in Schlagdistanz zu Fox.
Wenige Minuten später heulte Funk schon Rotz und Wasser, als sie am Sportschau-Mikrofon stand: “Ich ärgere mich einfach nur brutal, dass ich im letzten Streckenabschnitt ins Risiko gegangen bin und meinen Lauf weggeschmissen habe. (…) Es tut gerade noch ein bisschen weh.”
Funk: “Ich bin auch nur ein Mensch, keine Maschine”
Im Ziel hatte sie die umstrittene Situation gesehen und feststellen müssen, dass die Wertungsrichter Recht hatten. Während des Laufs oben im Kanal hatte sie noch nicht bemerkt, wie ihr der Torstab über den Helm rutschte. Als ihr dann die ersten Tränen übers Gesicht kullerten, hob Fox nur ein paar Meter davon entfernt zu ihrem ersten Jubelsturm an. Auch mit einer Zwei-Sekunden-Strafe hätte Funk am Sonntagabend übrigens die Medaillenränge verpasst. “Ich bin auch nur ein Mensch, ich bin keine Maschine”, sagte sie.
Der deutsche Cheftrainer Klaus Pohlen analysierte: “Sie hat für einen Moment vielleicht die Aufmerksamkeit verloren. Das ist in der Sportart so. Trotz allem kann man sagen, dass die Performance da war. Man muss es riskieren. Das ist der schmale Grat zwischen Risiko und Kontrolle.”
Den erhofften guten Einstieg in die Spiele von Paris verpasste sein Team damit. Doch in den nächsten Tagen hat die Mannschaft weitere Medaillenchancen, unter anderem bereits am Montagabend (29.07.2024) durch Tokio-Bronzegewinner Sideris Tasiadis, der Funk am Sonntag als Zuschauer unterstützte.
Im Halbfinale lässt Funk die Konkurrenz noch hinter sich
So viele Deutsche waren nach Vaires-sur-Marne angereist, alle hatten sie auf die olympische Titelverteidigung von Funk gehofft, eine Gruppe von neun Fans hatte auf ein weißes Leintuch geschrieben: “RICARDA, ich will ein Kajak von dir.” Kajak in Gelb geschrieben. Klar, auf welche Medaillenfarbe das anspielte.
Funk hatte den Anhängern anfangs auch große Hoffnung auf den nächsten Olympia-Coup gegeben. Im Halbfinale am Nachmittag legte sie souverän vor, so laut wie in ihrem Lauf wurde es auf den Rängen höchstens noch bei der Lokalmatadorin Camille Prigent.
Wird Fox zur Königin des Wasserkanals von Vaires-sur-Marne?
Wie das Messer, das an Pariser Frühstückstischen die weiche Butter auf dem Baguette verstreicht, so manövrierte Funk ihr langes Kajak durchs wilde Wasser von Vaires-sur-Marne, sie war in diesen Momenten wirklich eins mit dem Wasser, anders im Finale an der verhängnisvolle Walze. Zwar berührte sie auch im Halbfinale ein Aufwärtstor mit ihrer linken Schulter, unten war sie aber trotzdem die Schnellste, Fox lag da noch weit zurück.
Doch wie das so ist mit verpatzten Generalproben: Fox, die Olympiasiegerin von 2021 im Canadier, nutzte dann die Gelegenheit, dass sie im Finale vorlegen konnte. Der Kanuslalom-Star liefert im Land des dreimaligen Olympiasiegers und heutigen Chefs des Organisationskomitees der Sommerspiele, Tony Estanguet.
Funks Fazit: “Olympia ist noch nicht vorbei”
Sie hat jetzt neben dem Canadier- auch noch Kajak-Gold errungen, unten im Ziel angekommen formte Fox ein Herz mit ihren Händen. Was die Zuschauenden entsprechend honorierten. Da die Australierin noch im Canadier und im Kajak-Cross antritt, könnte sie durchaus zur Königin des Wasserkanals von Vaires-sur-Marne werden.
Oder ihre alte Konkurrentin Funk macht ihr zumindest noch einen Strich durch die Rechnung: Auch sie wird ja noch im Kajak-Cross antreten, im Canadier fährt Elena Lilik für Deutschland. Anders als in Tokio bietet sich Funk also immer noch eine Chance auf Edelmetall. “Olympia ist noch nicht vorbei”, sagte sie. Schon wieder kämpferischer. Die Tränen waren getrocknet.