An neurologischen Erkrankungen leiden Frauen drei- bis viermal häufiger als Männer. Auch sind die Verläufe dieser Erkrankungen geschlechtsspezifisch. Multiple Sklerose zum Beispiel, tritt bei Frauen häufiger in jüngeren Lebensjahren auf. In über 80 Prozent der Fälle handelt es sich bei diesen um eine schubförmige MS. Bei Männern hingegen ist eher die sekundär-progrediente die vorherrschende Form.
Aufgrund der Hormonkonstellationen, der genetischen Prädispositionen und psychosozialen Faktoren sind bei der Alzheimer-Demenz doppelt so viele Frauen wie Männer betroffen. Bei Parkinson hingegen haben Männer ein circa 50 Prozent höheres Risiko, daran zu erkranken. Zudem leiden Männer bereits zu Beginn dieser Erkrankung an schwereren Symptomen als Frauen.
Der Facharzt für Neurologie Dr. med. Mimoun Azizi, M.A., ist seit 2021 Chefarzt der Geriatrie/Neurogeriatrie am Allgemeinen Krankenhaus Celle. Darüber hinaus ist er Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und besitzt u.a. Zusatzqualifikationen in der Notfallmedizin, Geriatrie und Palliativmedizin. Der Autor verschiedener Fachbücher und -artikel besitzt zudem einen Magister der Politikwissenschaften und Soziologie sowie einen Master der Philosophie.
Psychische Erkrankungen: Unterschiede in Symptomen und Verlauf
Auch depressive Erkrankungen zeigen bei Männern und Frauen unterschiedliche Symptome. Betroffene Männer sind eher gereizt und aggressiv. Häufiger treten bei ihnen Alkohol- und Nikotinsucht im Rahmen depressiver Erkrankungen auf. Frauen hingegen klagen eher über Freudlosigkeit, Antriebsarmut, Lustlosigkeit und Niedergeschlagenheit. Nicht selten sind hier auch Essstörungen zu diagnostizieren.
Die Diagnose von ADHS wird bei Männern häufiger und früher diagnostiziert als bei Frauen. Auch bei einer Schizophrenie gibt es Unterschiede. Bei Frauen tritt die Erkrankung durchschnittlich fünf Jahre später auf als bei Männern. Das liegt vermutlich daran, dass Östrogene eine schützende Funktion haben.
Herzerkrankungen: Geschlechtsspezifische Symptome oft unbemerkt
Bis in die 90er- Jahre hinein war vielen nicht bekannt, dass ein Herzinfarkt bei Frauen sich völlig anders klinisch manifestieren kann. Das liegt daran, dass die Medizin männlich geprägt war und sich Ärztinnen und Ärzte an männlichen Patienten orientiert haben. In der Forschung bilden Männer oft die größere Gruppe, auch bei Tierversuchen dominieren männliche Versuchstiere.
Herzinfarkte treten bei Männern häufiger auf und betreffen sie bereits im mittleren Alter. Frauen hingegen erleiden Herzinfarkte erst im höheren Alter und die Symptome sind bei Frauen weniger intensiv, weshalb ein Herzinfarkt bei diesen leicht übersehen werden kann. Häufig klagen sie über Müdigkeit, Schlafstörungen und leichte Schmerzen im Brustbereich oder in den Armen.
Hormone und biologische Unterschiede beeinflussen Krankheiten
Bis heute stehen die geschlechtsspezifische Diagnostik und Therapie noch in den Anfängen. Die Sexualhormone spielen eine entscheidende Rolle, da sie den Stoffwechsel in der Zelle beeinflussen können.
Diese Hormone haben unterschiedliche Auswirkungen auf den Körper und können bei gleicher Erkrankung zu unterschiedlichen Symptomen führen. Womöglich sind sie die Ursache für das bessere Immunsystem der Frauen gegenüber Männern.
Die Notwendigkeit geschlechtsspezifischer Medizin
Sowohl in der Klinik als auch in der Forschung muss die Medizin umdenken. Geschlechtsspezifische und kulturelle Unterschiede müssen in allen Bereichen der Medizin berücksichtigt werden. Sie sind signifikant größer als oft angenommen und müssen sich stärker in Diagnostik und Therapie wiederfinden. Besonders in der Forschung ist es wichtig, beide Geschlechter und unterschiedliche Ethnien einzubeziehen, um adäquate Therapien zu entwickeln.
In der Klinik ist es so leichter, eine gerechte Anamnese, Diagnostik und Therapie durchführen zu können. Auch in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient spielen diese Faktoren eine wichtige Rolle. Momentan sind wir noch einige Schritte davon entfernt, aber es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel.