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    Jeder Bissen verursacht ihm Schmerzen – Rémys Eltern standen lange vor einem Rätsel

    Als Petra beginnt, ihrem Sohn Rémy Brei zu löffeln, fällt ihr auf, dass er sich an den Hals fasst. Schreit. Und irgendwann sei Rémy die Lust am Essen vergangen, erinnert sich Vater Marc. Das habe ihn traurig gemacht, sagt er, schließlich seien sie gern lange am Tisch, mit den beiden Töchtern Amélie und Elodie. Und seine Frau fährt fort, es habe alles durcheinandergebracht, sie hätten angefangen, gestaffelt zu essen, zuerst mit Rémy und dann mit den beiden Mädchen.

    Als Rémy neun Monate alt ist, muss er operiert werden. Er hat eine Hydrozele, eine Ansammlung von Flüssigkeit in der Hodenhülle. In dieser Zeit hat er oft Bauchschmerzen, muss sich vielfach übergeben und beginnt, Blut zu erbrechen. Für sie sei klar gewesen, dass etwas nicht stimme, sagt Marc. Doch beim Kinderarzt und im Kinderspital taxiert man es als Reflux, als saures Aufstoßen: „Man schickte uns nach Hause“, erinnert sich Marc.

    Chronische Entzündung der Speiseröhre

    Bei der Besprechung für die Hydrozele-Operation passiert etwas Unerwartetes. Petra sagt: „Es war das erste Mal, dass jemand mitdachte“; man habe sie gefragt, ob sie grad auch eine Magenspiegelung machen wollen. Petra und Marc wollen wissen, warum ihr Sohn dauernd Blut erbricht; sie sind einverstanden. Man findet heraus, dass drei Viertel der Speiseröhre entzündet sind.

    Rémy hat eine chronische Entzündung der Speiseröhre, eine Eosinophile Ösophagitis, kurz EoE. Die Oberärztin der Gastroenterologie hatte noch gesagt, man werde nichts finden. Jetzt muss sofort gehandelt werden, ansonsten vernarbt das Gewebe und die Speiseröhre verengt sich: Rémy bekommt Cortison. Doch nach zweieinhalb Monaten muss das Steroidhormon abgesetzt werden, weil sich ein Pilz gebildet hat. Außerdem sei Rémy aufgedunsen gewesen wie ein „Michelin-Männchen“, sagt Marc.

    Man verlegt sich auf eine Testserie, die viele Monate dauern wird. Zuerst sollen die acht Lebensmittelgruppen vom Speiseplan gestrichen werden, die allergen sein können. Danach untersucht man mit einer Magenspiegelung, ob die Speiseröhre noch entzündet ist. Je nach Befund führt man dann eine Lebensmittelgruppe nach der anderen ein und prüft jeweils mit einer Magenspiegelung, wie es der Speiseröhre geht. Acht Lebensmittelgruppen – acht Magenspiegelungen. Jetzt hätten sie erstmal alles weggelassen und gesehen, dass die Entzündung weg sei. Als erstes würden sie nun Weizen testen. „Im besten Fall können wir ein oder zwei Lebensmittel verwenden, das würde es für uns alle einfacher machen“, hofft Petra.

    Übertrieben oft krank

    Petra und Marc sind gern als Familie auf Achse. Als Rémy ein paar Monate alt ist, fahren sie für acht Wochen nach Skandinavien. Während der Reise hat Rémy keine Probleme mit der Gesundheit. Heute sei ihr klar, dass ihm seine Speiseröhre seit Geburt zu schaffen mache. Schon in den ersten Tagen habe sie der Hebamme immer wieder gesagt, etwas stimme nicht. Er trinke eigenartig. „Jedes Kind ist anders“, habe diese gefunden.

    Es ist ein Muster, das immer stärker sichtbar wird: Man glaubt ihnen nicht. Winkt ab. Schickt sie weiter. Wenn sie zum Kinderarzt gehen, heißt es, vielleicht sei dieses oder jenes normal bei Rémy, sie sollten sich im Krankenhaus melden. Rufen sie dort an, will man nachfragen und meldet sich zwei Wochen nicht mehr. Noch schlimmer ist es in der Notaufnahme. Sie hätten es mehrmals erlebt, dass sie der Kinderarzt an den Notfall überwiesen, man sie dort aber nach Hause geschickt habe. „Das wollten wir nicht mehr. Also blieben wir zu Hause, wenn es uns vertretbar erschien“, schildert Marc.

    Eine schwierige Entscheidung. Aber der Gang in die Notaufnahme ist belastend. Es habe Stunden dauern können, bis sie an die Reihe gekommen seien. Zu seiner Krankheitsgeschichte habe es geheißen, das habe alles keinen Zusammenhang. Und sie könne sogar nachvollziehen, wenn jemand zum Schluss komme, das könne alles gar nicht wahr sein. Dass es übertrieben sei, wir zu besorgt und wegen jeder Kleinigkeit im Notfall auftauchen würden. „Es ist tatsächlich übertrieben, wie oft er krank ist“, sagt Petra.

    Nach Hause geschickt

    Mit den Geschwistern Elodie und Amélie ist Petra kein einziges Mal im Kinderspital, mit Rémy andauernd. „Es hieß immer, das sei normal. Ich fühlte mich sehr allein. War wütend“, beschreibt sie. Als Mutter wisse man, wenn etwas nicht stimme. Mit der Zeit komme man sich selbst doof vor.

    Als Rémy zum zweiten Mal Blut erbricht, findet der Kinderarzt, er könne nichts mehr tun, sie müssten in die Notaufname. Dort sagt man ihnen, der Stationsarzt und die Gastroenterologie wollten Rémy sehen. Vor Ort lässt sich niemand blicken, sie warten den ganzen Nachmittag: „Es wurde kein einziger Test gemacht, nichts“, sagt Petra. Schließlich habe man sie gefragt, ob er „sonst“ gesund sei. Was er denn habe. Einmal mehr werden sie nach Hause geschickt; das sei normal – komme oft vor. Ins Krankenhaus müssten sie erst gehen, wenn er große Mengen Blut erbreche.

    Auf eigenes Risiko

    Als Rémy zweieinhalb Wochen alt ist, hört er einmal auf zu atmen. „Er war violett“, erinnert sich Petra. Sie wissen zuerst nicht, was tun und gehen zum Kinderarzt, der sie in die Notaufnahme schickt. Dort behält man Rémy zwei Nächte. Nach zwei weiteren Tagen zu Hause hört er auf zu trinken. Wieder in die Notaufnahme. Man will eine Magensonde legen. Petra ist dagegen und schlägt vor, das zu Hause hinzubekommen. Man solle ihr einfach sagen, wieviel er trinken müsse. „Auf eigenes Risiko“, habe man ihr gesagt. Der Stationsarzt hält ihr eine Standpauke, wie verantwortungslos das sei. Aber es funktioniert, Rémy trinkt seine 400 Milliliter.

    „Bedienungsanleitung“ für Rémy

    Ihre Partnerschaft habe sehr gelitten, bedauert Petra: „Wenn wir einmal Zeit haben, reden wir über Rémy.“ Was man noch machen könnte, wohin man noch gehen könnte. Es habe gedauert, bis sie selbst gesehen hätten, dass es nicht so weitergehen könne. Sie auch Zeit nur für sich bräuchten. Sie kommen auf ihr Netzwerk zu sprechen, auf die Menschen, die an ihrer Seite sind. Es gelinge ihnen tatsächlich, alle drei Kinder ein Wochenende unterzubringen.

    Für Rémy hätten sie eine „Bedienungsanleitung“ geschrieben, die mit ihm mitgehe. Gleich obendrüber wohnen die Eltern von Petra. Marc sagt: „Sie helfen uns viel, sind auch spontan für uns da.“ Elodie verziehe sich auch mal nach oben, wenn sie genug habe. Zum engen Kreis gehören auch die Paten der drei Kinder, die Eltern von Marc, die Kita und ein paar Kollegen.

    Eines aber ist klar: Alle drei zusammen kann ihnen niemand abnehmen, das heißt, für ein bisschen Zeit zu zweit geht schnell einmal ein Tag für das Bringen und Holen drauf. Petra sagt: „Immer in der Hoffnung, dass alles rund läuft mit den Kindern.“ Sonst sei die kleine Insel schnell unter Wasser. So lerne man, umso mehr zu schätzen, was möglich sei, sinniert Marc. Dieses Jahr haben Petra und Marc damit angefangen, einzeln Ferien zu machen. Der andere übernimmt dann das zu Hause. „Mir gibt das sehr viel“, freut sich Petra.

    Erlaubt sind Früchte, Gemüse, Fleisch und Hülsenfrüchte

    Petra ist gelernte Handbuchbinderin, ein Beruf, dem die Zukunft abhandenkam. Heute gibt sie Religionsunterricht und arbeitet in einem Fotostudio. Außerdem führt sie den Haushalt ihrer fünfköpfigen Familie. Marc ist gelernter Konstrukteur im Maschinenbau, arbeitet fünf Minuten von daheim entfernt in einer Metallbaufirma und produziert besondere Bauteile. Unterwegs gemütlich in ein Restaurant: für Petra und Marc mit ihren drei Kindern nahezu unmöglich.

    Als Rémys Beschwerden anfangen, denken sie, Pommes könne er essen. Erst später geht ihnen auf, dass Pommes in derselben Fritteuse wie Chicken Nuggets und Fischstäbchen gemacht werden. Und nicht glutenfrei sind. Deshalb hat Petra immer etwas für Rémy zum Aufwärmen dabei. Sie habe das noch in jedem Restaurant hinbekommen: „Aber ich werde immer schräg angeschaut“, wie sie sagt. Auch daheim, im Alltag, müssen sie auf der Hut sein. Die beiden Mädchen können nicht in Ruhe etwas mit Knete machen, weil es dort Weizen drin hat. Und der Roboter-Staubsauger fährt pausenlos unter dem Esstisch herum, damit Rémy nicht versehentlich Brotsamen isst, die seinen Schwestern runtergefallen sind.

    Weizen, Fisch, Soja, Eier, Milch, Nüsse, Reis und Mais sind verboten auf Rémys Speiseplan , weil er womöglich allergisch darauf reagiert. Erlaubt sind Früchte und Gemüse sowie Fleisch und Hülsenfrüchte.

    Ein ewiger Kampf

    Noch heute erleben es Petra und Marc oft, dass man ihnen nicht glaubt. „Wahrscheinlich wollen einem die Leute Mut machen“, vermutet Marc. Es sei sicher nicht böse gemeint. Trotzdem sei es wie ein Stich, wenn jemand sage, das werde sich sicher „auswachsen“. Manche Aussagen hätten sie fertiggemacht. Eben, wenn man zu hören bekomme, man solle doch froh sein, dass es nichts Schlimmeres sei. Und wenn sie ruhig erklärt hätten, es wachse sich nicht aus, sei auch schon nachgedoppelt worden: „Wer weiß, vielleicht später.“

    Es sei ein ewiger Kampf. Petra erzählt, seit Rémys Geburt habe sie keinen Tag gewusst, ob sie zu Hause werde bleiben können und wenn sie zum Arzt gegangen sei, habe sie darum kämpfen müssen, dass er behandelt werde. Das habe ihr alle Kraft genommen, sagt sie. Und für einen Moment ist es ganz still.

    Die Krankheit von Rémy habe sie als Familie zusammengeschweißt, sagt Marc. Sie hätten einfach alle am gleichen Strick ziehen müssen. Und die beiden Großen machten super mit: „Sie sind ein gutes Team zu dritt“, sagt er stolz. Petra bestätigt, die Mädchen würden auf ihren kleinen Bruder aufpassen. Etwa im Restaurant, wo sie besorgt seien, dass er nichts Falsches in die Finger kriege. „Aber sie kommen zu kurz, immer noch“, ist sie sicher.

    von Thomas Stucki

    Der Beitrag erschien zuerst 2023 im „Wissensbuch“ des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten. Dies ist eine gekürzte Fassung.

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