Essen. Wie Co-Intendantin Selen Kara die musikalische Erinnerungsreise nach zehn erfolgreichen Jahren am Grillo-Theater neu inszeniert.
Vor gut zehn Jahren kam der Auftrag vom Theater Bremen, das Haus zu füllen. Dass ein musikalischer Abend mit völkerverbindendem Anspruch aber einen solchen Erfolg heraufbeschwören würde, war nicht abzusehen. Mittlerweile ist er an über zehn deutschen Theatern gefeiert worden. In Stuttgart gibt es gar eine Publikumspetition, die eine Wiederaufnahme fordert. „Niemand hat damit gerechnet“, sagt der musikalische Leiter Torsten Kindermann, der mit Regisseurin Selen Kara und Autor Akın Emanuel Şipal eine geniale Idee umgesetzt hat. Jetzt ist „Istanbul“ ab 20. Dezember auch am Grillo-Theater zu sehen.
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Die Essener Gastarbeiter-Geschichte wurde in die Türkei verlegt
Selen Kara, die vor anderthalb Jahren gemeinsam mit Christina Zintl die Intendanz des Schauspiel Essen übernommen hat, zeigt auf ihren Mann: „Er hatte die Idee des Perspektivwechsels.“ Die Geschichte des Wirtschaftswunders mit seiner Gastarbeiter-Anwerbung wurde von Deutschland in die Türkei verlegt, damit das Publikum ein bisschen nachempfinden kann, wie es ist, in der Fremde anzukommen. „Wir erzählen von der ersten Gastarbeitergeneration und deren Kinder“, so Selen Kara. Von denen, die Anfang der 1960er Jahre angereist sind – ohne Sprachkenntnisse, ohne Familie, mit dem festen Willen zurückzukehren.
Entstanden ist eine Erinnerungsreise in Stationen, die mit der Beerdigung von Klaus aus Katernberg beginnt (Roland Riebeling vertritt bei der Premiere Stefan Diekmann). Er hat in Istanbul malocht, um seine Familie im Not leidenden Deutschland finanziell zu unterstützen. Denn seinen Kindern soll es einmal besser gehen. Doch nun stellt sich die Frage: Wohin mit seiner Asche? In welche Heimat? Rückblickend wird erzählt, wie es dem Vater, Rot-Weiß-Essen-Fan, Arbeiter ergangen ist. Der hiesige Fußballverein kommt in der Neufassung der Geschichte vor. Und die Tochter (Lene Dax) erhält eine größere Funktion. Sie streitet mit dem Vater, weil sie nicht ihr Leben lang zwischen den Stühlen sitzen will.
„Kofferkinder“ werden sie genannt. Kinder, die in der Heimat blieben oder erst später nachgeholt wurden, weil kein langer Aufenthalt geplant war. „Eine traumatisierte Generation“, sagt Musiker Torsten Kindermann (50). „Ich habe viele Tanten und Onkel, die dieses Schicksal haben“, sagt Selen Kara. Und sie hat Großeltern, die als Gastarbeiter in Katernberg gelebt haben. „Meine Großeltern mussten viele Opfer bringen. Meine Generation profitiert davon, was sie geleistet haben.“ Die 39-Jährige gehört zu den besten Beispielen. Und so ist dieser musikalisch-theatrale Abend, der zu Beginn ihrer Karriere ein Türöffner an den Theatern war, stark beeinflusst von ihrer persönlichen Geschichte.
Essener Ensemble singt Songs der türkischen Pop-Legende Sezen Aksu
Vor dem prunkvollen Innenleben der Blauen Moschee, das von den Theatermalern gefertigt wurde, sticht ein detailreich ausgestattetes Café als Ort der Zusammenkunft hervor (Bühne: Thomas Rupert) für ein deutsch-türkisches Ensemble, Musikerinnen und Musiker sowie Zuschauende, die auch auf der Bühne sitzen können. Hier wird eine Einwanderer-Geschichte erzählt und 15 Songs von Sezen Aksu gesungen. „Sie ist die Urmutter des türkischen Pop“, erklärt Kindermann. „Die Lieder sind sehr poetisch und melancholisch. Es gibt nur ein Lied in Dur.“ Dennoch haben sie bisher alle von den Sitzen gerissen. Selen Kara kennt diese Songs seit ihrer Kindheit und weiß um ihre Beliebtheit.
Die deutschen Schauspielerinnen und Schauspieler lernen derzeit also unter Hochdruck Türkisch, der türkische Schauspieler Alican Yücesoy, der als Gast engagiert ist, paukt Deutsch. Das deutsche Publikum erhält Übersetzungshilfe, das türkische nicht. Wenn das Stück aber mal an einem Theater in Istanbul laufen sollte, wäre das schon notwendig. „Wir wünschen uns das sehr“, meinen Kara und Kindermann. In Deutschland ist das Interesse riesig. Mehr als 70.000 Menschen wurden, laut Theater und Philharmonie, bereits erreicht. Und die machten erstaunliche und berührende Aussagen.
Ausstellung zu „Istanbul“
Die Ausstellung „Vergangenheit neu denken“ begleitet den Theaterabend „Istanbul“. Mit der Premiere am 20. Dezember wird sie im Foyer des Grillo-Theaters eröffnet und soll noch an anderen Orten der Stadt gezeigt werden. Künstlerisch umgesetzt wurde sie von Havva Ayvalık.
Ergänzt wird der Abend um die tatsächlichen Geschichten von Familien, die seit den 1960er Jahren aus der Türkei ins Ruhrgebiet kamen. Das Schauspiel Essen hatte dazu aufgerufen, persönliche Fotos und Briefe einzusenden. Diese zeigen Lebenswelten der ersten Generation von Arbeitsmigrantinnen und -migranten sowie ihrer Familien. Sie erzählen vom Ankommen in Deutschland, vom Familiennachzug, von Besuchen in der alten Heimat und vom Miteinander.
Karten für den Theaterabend telefonisch unter 0201 8122 200 und online auf www.theater-essen.de
„Danke, dass Sie unsere Geschichte erzählen“, haben die Regisseurin und der Musiker bei Publikumsgesprächen gehört. Aber auch: „Ich hätte sie mir 30 Jahre früher gewünscht.“ Oder: „Ich schäme mich, dass ich diesen Perspektivwechsel nie gemacht habe.“ Die Musik ist eine Komponente für den Erfolg des Abends, die Geschichte eine andere. „Jeder kann sich hineinversetzen“, betont Selen Kara. Zu Ende erzählt ist sie noch nicht. Die rassistischen Anschläge von Mölln oder Solingen legen einen zweiten Teil nahe: „Wir denken über eine Fortsetzung nach.“
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