Der SV Darmstadt 98 und der neue Trainer Florian Kohfeldt haken die jeweilige Vergangenheit ab und läuten eine neue Ära ein. Damit das gelingt, müssen beide beweisen, dass sie besser sind als ihr derzeitiger Ruf.
Der erste Arbeitstag von Florian Kohfeldt begann am Dienstag mit einem lautstarken “Guten Morgen” des Präsidenten. Rüdiger Fritsch, der immer dann auf dem Podium sitzt, wenn es wichtig wird bei Darmstadt 98, betrat als erster den Presseraum und begrüßte in der ihm eigenen Art die Medienvertreter. Sportdirektor Paul Fernie und der neue Coach Kohfeldt folgten in seinem Schatten, die ersten Worte gehörten dann aber dem Chef.
“Ich möchte die Gelegenheit für einen Appell nutzen”, betonte Fritsch und sagte dann direkt zu Beginn der Vorstellungs-Pressekonferenz die entscheidenden Sätze des Vormittags: “Lasst uns das Zurückblicken beenden, das tut dem Verein nicht gut. Wir sollten lieber wieder nach vorne schauen, ein neues Kapitel aufschlagen und gemeinsam anpacken.” Die Lilien wollen die schwierige Vergangenheit abhaken und an einer besseren Zukunft arbeiten. Was einmal war, das zählt nicht mehr.
Kohfeldts Lebenslauf ist ausbaufähig
Nun ist es nach Trainer-Trennungen und -Verpflichtungen natürlich fast schon üblich, einen Strich zu ziehen und den Fokus auf die kommenden Aufgaben zu richten. Was bleibt den Südhessen nach nur einem Sieg aus den vergangenen 31 Pflichtspielen und Tabellenplatz 17 in der 2. Bundesliga auch anderes übrig? Da jedoch auch Hoffnungsträger Kohfeldt eine durchaus schwierige Zeit hinter sich hat, passt das von Fritsch ausgesprochene Rückspiegel-Verbot auch zum Trainer. It’s a match.
Kohfeldt, der bei Werder Bremen einst als potenzieller neuer Jürgen Klopp und mindestens als neuer Thomas Schaaf gehandelt wurde, präsentierte sich bei seinem Heimatverein zwei Jahre lang als Shootingstar, ehe für ihn gleich mehrfach gar nichts mehr zusammenlief. Auf eine (erfolgreiche) Relegationsteilnahme in der Saison 2019/2020 folgte der Rausschmiss am 33. Spieltag der darauffolgenden Spielzeit. Werder stieg dennoch ab, für Kohfeldt ging es weiter nach Wolfsburg und zwei Jahre später zum belgischen Erstligisten Eupen.
Bei beiden Stationen war nach deutlich mehr Niederlagen als Siegen frühzeitig Schluss, einmal wurde Kohfeldt gefeuert, einmal bot er seinen Rücktritt an. Kurzum: Der Lebenslauf eines Erfolgstrainers sieht anders aus.
Kohfeldt war der Wunschkandidat
Eine Rolle spielte das, das betonte Sportchef Fernie, bei der Darmstädter Trainersuche jedoch nicht. Kohfeldt, der im Gegensatz zu seinen vorherigen Engagements seine Familie mit nach Darmstadt bringt und in der Stadt heimisch werden will, überzeugte Fernie in einem fast vierstündigen persönlichen Gespräch am vergangenen Dienstag von seinen Vorstellungen und stach somit andere Kandidaten aus. Nach zwei weiteren Telefonaten am Mittwoch und am Donnerstag war klar: Kohfeldt soll es werden. “Er war und ist unsere Wunschlösung.”
Als diese muss Kohfeldt nun – passend zu seinem neuen Verein – beweisen, dass er besser ist als es die jüngsten Statistiken vermuten lassen. “Ich verstehe, dass da bei einigen Fragezeichen aufkommen”, sagte der 41-Jährige. Er selbst, das wurde bei seinem ersten Auftritt in offizieller Darmstädter Mission sehr klar, hat daran aber keinen Zweifel. “Ich habe die letzten Jahre nicht als Karriereabschwung empfunden. Ich habe wichtige Erfahrungen gesammelt und will diese nun hier einbringen.”
Was gestern oder vor fünf Jahren war, sei völlig egal, so Kohfeldt. “Es zählt ab Samstag auf dem Platz, daran werden wir uns bewerten lassen.” Nach vorne blicken, nicht zurück. Das neue Darmstädter Mantra hat Kohfeldt also schon verinnerlicht. Doch wie will der frühere Torhüter die Lilien zurück zu alter Stärke führen?
Kohfeldt versucht’s mit Ballbesitzfußball
Nach zahlreichen Einzelgesprächen mit dem Staff, zu dem der langjährige Co-Trainer Ovid Hajou ab sofort nicht mehr zählt, und “nahezu allen Spielern” geht es für Kohfeldt nun darum, seinem Kader “so schnell wie möglich die Spielidee zu vermitteln”. Kohfeldt, ein Verfechter von zielgerichtetem, temporeichem und dominantem Ballbesitzfußball, hat dafür am Dienstag und am Mittwoch gleich drei Trainingseinheiten auf den Plan gesetzt. Der kommende Gegner Eintracht Braunschweig soll erst kurz vor der Partie am Samstag (13 Uhr) zum Thema gemacht werden. “Wir beschäftigen uns erst einmal mit uns selbst.”
Wie genau der neue Lilien-Fußball aussehen könnte, war am Dienstag bei Kohfeldts Premiere auf dem Platz nur zu erahnen. Seine Vorgehensweis wurde aber schon einmal deutlich. Kohfeldts große Stärke, das zeigte er nicht nur auf der Pressekonferenz, ist seine Kommunikation und seine offene Art. Noch vor der Einheit erfüllte er die ersten Selfie-Wünsche von Fans, beim Aufwärmen bedankte er sich für den Applaus der Trainingskiebitze und plauderte mit einigen Anhängern.
Während des Trainings unterbrach er selbst die Passübungen, um kleinere Fehler zu verbessern. Insgesamt machte er einen hochmotivierten und gleichzeitig sehr peniblen Eindruck. Nicht das Schlechteste in der aktuellen Situation. Wie schnell seine Handschrift sichtbar wird und ob seine Vorhaben zum Tabellenkeller der 2. Liga passen, bleibt natürlich abzuwarten.
Siege müssen her
Unabhängig von Taktik, Formation und Aufstellung geht es bei den Lilien aber ohnehin vordergründig erst einmal um einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Umfeld, Fans und Team sehnen sich danach, den Platz und das Stadion mal wieder mit einem positiven Gefühl zu verlassen und den freien Fall endlich zu stoppen. “Wir brauchen jetzt neue Impulse und Erfolgserlebnisse”, fasste Fritsch das kleine Neuanfangs-Einmaleins zusammen. “Wir wollen damit am Samstag beginnen. Und dafür ist jetzt Florian Kohfeldt verantwortlich.” Auf Worte müssen gegen den Tabellenletzten aus Braunschweig also schnellstmöglich Taten folgen.