Wie viele Kinder in BW an Long Covid leiden, ist unbekannt. Klar ist: Ein Schulbesuch ist für manche Betroffene nicht leistbar. Dabei sind Kinder schulpflichtig. Eine betroffene Familie erzählt.
Frühstück im Bett: Was erstmal wie Luxus klingt, ist für die 12-jährige Julie und ihren Bruder zwingend notwendig. Die beiden haben Long Covid. Julie seit über einem Jahr, ihr Bruder seit Weihnachten. Manche Betroffene riechen deshalb nichts mehr, bei beiden Kindern wirkt es sich so aus, dass sie unter ME/CFS leiden, ausgeschrieben: Myalgische Enzephalomyelitis / das Chronische Fatigue Syndrom.
Symptome von Long Covid: Wenig Energie, Schmerzen
Essen am Tisch würde die Geschwister zu viel Energie kosten, die sie lieber aufsparen. Julie zum Beispiel, um im Rollstuhl mit Familienhund Amy rauszugehen. Die Hälfte des Tages muss sie liegen, jede Aktivität hat Konsequenzen: “Ich bin dann müde, und ich habe mehr Schmerzen, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen, Muskelschmerzen, manchmal auch Kopfschmerzen. Ja, und ich bin einfach sehr erschöpft.”
Julie streichelt ihre Hündin Amy, umgeben von ihren Eltern.
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Aktuelle Daten zu Long Covid gibt es kaum
Ihr 16 Jahre alter Bruder Rick muss den ganzen Tag im Bett bleiben. Im Schlafzimmer seiner Eltern, weil es ihn zu viel Kraft kosten würde, ins eigene Hochbett zu steigen. Nach Einschätzung seiner Mutter kann er im Moment dort etwa zwei Stunden am Tag sitzen.
Laut Uniklinikum Freiburg gab es schon vor der Pandemie in Deutschland bis zu 90.000 Betroffene im Alter von sechs bis 17 Jahren. Die Krankheit gibt es seit Jahrzehnten. Pressesprecherin Janina Werther von der deutschen Gesellschaft für ME/CFS sagt: “Leider ist die Datenlage zum Anstieg von ME/CFS durch Covid-19 nach wie vor unbefriedigend. Expertinnen und Experten gehen inzwischen von einer Verdopplung der ME/CFS-Kranken durch die Pandemie aus.”
Belastbare Daten für Deutschland und Baden-Württemberg gebe es jedoch nicht. Studien seien dringend notwendig.
Schmerzhafte Erinnerungen an früher – ohne Corona-Folgen
Auch die Eltern von Julie wünschen sich dringend mehr Studien und Forschung. Früher hat die Familie fast jedes Jahr eine größere Reise gemacht. Viele Fotoalben erinnern daran. Julie hat es geschafft aufzustehen, blättert mit ihren Eltern in den Alben. Beide Kinder waren vor ihrer Erkrankung sehr sportlich. Es gibt Fotos, auf denen sie von Klippen springen, Stand-up-Paddel fahren, Salti schlagen.
Julies Mutter hofft, dass es ihren an ME/CFS leidenden Kindern bald besser geht.
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Überall im Haus liegen Bälle, in Julies Zimmer gibt es eine Reckstange und Turnringe. Für ihre Mutter sind diese Erinnerungen schmerzhaft, sie hat sich fest vorgenommen nicht zu weinen. Trotzdem kommen ihr die Tränen, als sie erzählt: “Wir haben halt immer was gemacht. Wir waren eine sehr aktive Familie.”
Durch die Corona-Spätfolgen schafft Julie es jetzt, wenn überhaupt, alle zwei drei Wochen eine Freundin zu treffen. “Wir machen dann halt ruhige Sachen. Wir liegen im Bett, reden und hören Musik.”
Anmerkung der Redaktion
Auf Wunsch der Familie wurden die Namen der Betroffenen geändert.
Schulpflicht kaum erfüllbar
Eigentlich sind beide Kinder schulpflichtig, waren sehr gute Schüler. Doch für Rick ist Unterricht aktuell undenkbar. Julie hat das Sitzen am Tisch gerade angestrengt, sie braucht eine Pause. Und zwar jetzt. Einer der Gründe, warum der Versuch, online am Unterricht teilzunehmen, nicht geklappt hat. Sie hatte einen Avatar – einen kleinen Roboter, der für sie in der Schule war. Laut Kultusministerium sind in den Kreismedienzentren in Baden-Württemberg 75 Avatare verfügbar, können ausgeliehen und überregional verteilt werden. Doch eine Ausleihe klappt nicht immer. 2024 gab es 124 Anfragen, dieses Jahr bislang 51. Bei Julie übernahm die Schulstiftung ihres Gymnasiums die Kosten für den kleinen Roboter.
So besuchte Julie die Schule mit einem Avatar
Ihre Mutter erklärt: “Julie hatte dann ein Tablet zuhause, das mit dem Avatar verbunden war. Das Gute war, dass sie selbst nicht gesehen wurde, weil sie auch oft im Bett liegen musste.” Der Avatar konnte den Kopf drehen, sich melden, Julie konnte über ein Mikrofon sprechen. Das sei eigentlich ein tolles Medium, meint ihr Vater: “Nicht nur um den Anschluss an den Schulstoff nicht zu verlieren, sondern auch damit Julie Anschluss an ihre Klasse hatte.”
Ihre Mitschüler fanden den Avatar interessant, hätten ihn überallhin mitgenommen. Jetzt sei sie wieder sehr isoliert. Der Kontakt zu Gleichaltrigen würde beiden Kindern sehr fehlen. Doch mit dem Avatar war es einfach zu laut für Julie, zu unflexibel, zu anstrengend. Dabei möchte sie unbedingt in die Schule.
“Also ich würde schon sehr, sehr gerne in die Schule gehen. Grad geht’s halt noch nicht, weil ich einfach nicht so viel Kraft habe. Ich vermisse meine Klasse und meine Lehrer sehr.”
Wie organisiert man Hausunterricht für ein krankes Kind?
Damit ihre Tochter nicht komplett den Anschluss verliert, haben ihre Eltern für einen Hauslehrer gekämpft. Darauf haben Kinder in Julies Situation einen Rechtsanspruch. Doch die Schule hatte keine Lehrer, die sie hätte schicken können. Ihre Eltern wussten zunächst nicht, dass sie sich in dem Fall ans Regierungspräsidium wenden können. Das ist für den Hausunterricht für Gymnasialschüler zuständig, das Schulamt für alle anderen Schularten, so das Kultusministerium. Aber auch da muss es erstmal freie Lehrkräfte geben.
Der Vater erinnert sich: “Es war nicht ganz klar, das ist ja die Problematik. Es gibt auch nicht die Adresse, die einem dann weiterhilft oder wirklich sagen kann, was zu tun ist.” Auch für die Schulen sei das Thema Hausunterricht in der Regel etwas Neues. Auch sie müssten sich erstmal damit auseinandersetzen. Und das mache alles sehr, sehr aufwendig und schwierig.
Julie an ihrem Schreibtisch: Sie hat einen Hauslehrer, der sie einmal am Tag eine Stunde lang besucht.
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Jeder kämpft für sich allein – ohne Plan vom Kultusministerium
Mittlerweile hat die 12-Jährige “einen tollen” Hauslehrer. Der kommt jeden Tag eine Stunde. Lernt mit Julie Deutsch, Mathe, Englisch. Danach brauche sie eine lange Pause erzählt ihr Vater: “Also für Julie ist es jetzt das Maximum, was wir rausholen können, das Maximum, was sie auch gerade kann. Aber die Hoffnung ist da, dass es sich stetig verbessert und dann ist eben da eine Lücke zwischen Vollbeschulung und dem, was ein Hausunterricht aktuell bieten kann.” Ihre Mutter ergänzt: “Das Kultusministerium muss sich einfach etwas überlegen. Das sind nämlich sehr viele Betroffene, und man kann nicht einfach nur sagen: wir haben kein Konzept. Jeder guckt halt selber. Jede Familie kämpft wieder für sich und ihre Kinder.”
Hoffnung für die Zukunft
Dabei sei Kraft genau das, was allen fehle. Immerhin hat sich Julies Zustand schon stark gebessert. Anfangs konnte auch sie nur im Bett liegen. Sie würde gerne bald ohne Rollstuhl mit Hund Amy spazieren gehen können. Ihre Eltern wünschen sich, dass die Erkrankung mehr Beachtung findet. Und Lösungen erarbeitet werden, abgestufte Konzepte, wie Beschulung möglich sein könnte. Angepasst an das, was die Kinder zu diesem Zeitpunkt schaffen. Damit Julie und Rick wieder mehr am Leben teilhaben können.