Steigende Lebenserwartung, die Menschen werden immer älter. Wie wirkt sich das auf die Medizin in Deutschland aus?
Die fortgeschrittene medizinische Versorgung in Industrienationen hat die Lebenserwartung der Menschen erheblich erhöht. In der medizinischen Terminologie wird ein Mensch als „alt“ betrachtet, sobald er das 65. Lebensjahr erreicht hat. Im Jahr 2024 machten Menschen im Alter von 65 Jahren und älter etwa 22,4 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland aus, was ungefähr 20 Millionen Menschen entspricht.
Die demografische Entwicklung deutet darauf hin, dass die Anzahl älterer Menschen in den Industrienationen, einschließlich Deutschland, weiter zunehmen wird. Im Laufe der Zeit wird die Gruppe der über 65-Jährigen einen immer größeren Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmachen und die medizinische Versorgung vor erhebliche Herausforderungen stellen.
Die Geriatrie oder Altersmedizin ist die medizinische Fachdisziplin, die sich mit den gesundheitlichen Herausforderungen und Krankheiten älterer Menschen befasst. Sie ist eine der am schnellsten wachsenden Fachrichtungen innerhalb der Medizin in Deutschland. Dies unterstreicht die Bedeutung und Notwendigkeit dieser Disziplin angesichts der steigenden Anzahl älterer Menschen in der Bevölkerung.
Der Facharzt für Neurologie Dr. med. Mimoun Azizi, M.A., ist seit 2021 Chefarzt der Geriatrie/Neurogeriatrie am Allgemeinen Krankenhaus Celle. Darüber hinaus ist er Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und besitzt u.a. Zusatzqualifikationen in der Notfallmedizin, Geriatrie und Palliativmedizin. Der Autor verschiedener Fachbücher und -artikel besitzt zudem einen Magister der Politikwissenschaften und Soziologie sowie einen Master der Philosophie.
Voraussetzungen für die Bezeichnung „Geriater“
Die Bezeichnung „Geriater“ ist eine Zusatzbezeichnung, die Ärzte verschiedener Fachrichtungen wie Innere Medizin, Neurologie oder Allgemeinmedizin erwerben können. Dies erfordert eine zusätzliche Ausbildung von 18 Monaten bei einem weiterbildungsberechtigten Arzt und das Bestehen einer Prüfung bei der Ärztekammer.
Es ist wichtig zu beachten, dass die anderen Fachrichtungen eine umfangreichere Weiterbildung erfordern, in der Regel zwischen fünf und sechs Jahren, gefolgt von einer Facharztprüfung. Nur nach erfolgreichem Abschluss dieser Prüfung dürfen sie den Titel „Facharzt“ tragen. Im Gegensatz dazu kann die Bezeichnung „Geriater“ in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum erreicht werden. Trotzdem bleibt die Geriatrie ein unverzichtbarer Bestandteil des Gesundheitssystems, da sie sich auf die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen älterer Patienten konzentriert.
Was sind die Besonderheiten der Geriatrie im Vergleich zu anderen medizinischen Fachrichtungen und warum ist es wichtig, diese zu verstehen?
Die Geriatrie weist einige Besonderheiten auf. Ältere Patienten sind in der Regel multimorbid, das heißt, sie leiden unter mehreren Krankheiten gleichzeitig und nehmen oft eine Vielzahl von Medikamenten ein – ein Phänomen, das als Polypharmazie bekannt ist. Darüber hinaus verändert sich mit zunehmendem Alter der Stoffwechsel und die Leistungsfähigkeit der Organe. Es kann zu Gedächtniseinschränkungen kommen und das Gehen kann erschwert sein.
Dennoch sind viele dieser Patienten selbstständig und sogar noch berufstätig. Trotz ihrer Bedeutung bleibt die Geriatrie oft eine Nische im Vergleich zu anderen medizinischen Fachrichtungen. Dies liegt zum Teil daran, dass sie eine relativ junge Disziplin ist, deren Ursprünge erst in den 1940er Jahren in England liegen. Dennoch hat die Geriatrie aufgrund der demografischen Entwicklung und der damit einhergehenden Zunahme älterer Patienten an Bedeutung gewonnen. Das Verständnis dieser Besonderheiten ist entscheidend, um den spezifischen Bedürfnissen älterer Patienten gerecht zu werden und eine angemessene medizinische Versorgung zu gewährleisten.
Mit der Anhebung des Rentenalters und dem Mangel an Fachkräften werden wir immer mehr Menschen erleben, die noch im Alter von 70 Jahren arbeiten. Daher wird es immer wichtiger, die Herausforderungen und Möglichkeiten zu verstehen, die mit der medizinischen Versorgung dieser wachsenden Bevölkerungsgruppe verbunden sind.
Spezifische Probleme und Herausforderungen der Geriatrie
Die Geriatrie konfrontiert Mediziner, Patienten und das Gesundheitssystem mit spezifischen Herausforderungen. Ein weit verbreitetes Missverständnis ist, dass die Geriatrie lediglich dazu dient, ältere Menschen zu „päppeln“. Tatsächlich behandelt die Geriatrie jedoch eine Vielzahl von Erkrankungen wie dekompensierte Herzinsuffizienz, akutes Nierenversagen, Blutzuckerentgleisungen, Blutvergiftungen, Gangstörungen, Infektionen und Gedächtnisstörungen sowie neurologische Erkrankungen wie Morbus Parkinson.
Trotz der wachsenden Notwendigkeit der Geriatrie aufgrund der demographischen Entwicklung und der zunehmenden Zahl multimorbider älterer Patienten in Krankenhäusern wird dieser Fachbereich oft marginalisiert. Ein möglicher Grund dafür könnte die befürchtete Konkurrenz durch andere Fachrichtungen sein, insbesondere die Innere Medizin. Diese hat sich jedoch im Laufe der Jahre zunehmend auf Bereiche wie Kardiologie, Gastroenterologie und Pulmonologie spezialisiert und stellt daher keine direkte Bedrohung für die Geriatrie dar.
Ein weiterer Faktor ist finanzieller Natur. Krankenhäuser verdienen mit der Geriatrie deutlich weniger als mit anderen Fachrichtungen, was den Ausbau dieses Bereichs hemmt. Darüber hinaus erfordert die geriatrische Praxis ein multidisziplinäres Team aus Medizinern, Therapeuten, Sozialarbeitern und Psychologen. Der Aufbau und die Finanzierung solcher Teams können ein weiteres Hindernis darstellen, insbesondere angesichts des Fachkräftemangels in all diesen Bereichen.
Es gibt auch Bedenken hinsichtlich des gesellschaftlichen Werts älterer Menschen. Da sie nicht mehr in die Kassen einzahlen und möglicherweise als weniger leistungsfähig angesehen werden, könnten sie vernachlässigt werden. Dies könnte erklären, warum die Geriatrie politisch und gesundheitspolitisch vernachlässigt wird. Schließlich spielt auch die Forschung eine Rolle. Die Altersmedizin hat lange Zeit eine untergeordnete Rolle gespielt, obwohl sich dies angesichts der steigenden Zahl älterer Patienten langsam zu ändern scheint.
Welche Veränderungen sind notwendig, um die Geriatrie zu verbessern und besser auf die Bedürfnisse älterer Menschen einzugehen?
Die Verbesserung der Geriatrie und die bessere Ausrichtung auf die Bedürfnisse älterer Menschen erfordern mehrere Veränderungen. Zunächst muss die Geriatrie als eigenständiges Fachgebiet anerkannt werden, weg von der Zusatzbezeichnung hin zum Facharzt für Geriatrie. Dies ist eine Aufgabe, die insbesondere von den Ärztekammern und der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie e.V. (DGG) übernommen werden sollte.
Die DGG sollte Leitlinien für die Behandlung älterer Menschen erarbeiten, da Assessments allein nicht ausreichen. Es ist notwendig, dass die Forschung auch Medikamentenwirkungen und -nebenwirkungen bei Menschen über 70 Jahren untersucht und dass Krankheiten im Alter generell mehr Beachtung in der Forschung finden. Darüber hinaus muss sich das Vergütungssystem in der Versorgung älterer Menschen ändern, um Anreize für Krankenhäuser zu schaffen, den Ausbau der Geriatrie voranzutreiben.
Aktuell gibt es mehr ältere Patienten als geriatrische Betten, ein Zustand, der sich schnell ändern muss. Schließlich müssen wir das Alter wertschätzen und unsere älteren Menschen mehr würdigen, auch durch eine angemessene medizinische Behandlung. Diese Menschen haben uns getragen und im Alter müssen wir sie tragen – das ist der Gesellschaftsvertrag einer zivilisierten Gesellschaft.
Wir dürfen nicht vergessen, dass jeder von uns älter wird und dann die Empathie, das Fachwissen und die Menschlichkeit der jüngeren Ärzte brauchen wird – genau wie die jetzigen älteren Patienten diese Aspekte von uns erwarten und sich wünschen.
