Ihr Körper greift sich selbst an: Morgens gesund, abends gelähmt: Leah (24) hat „Krankheit der vielen Gesichter“
Donnerstag, 27.03.2025, 09:15
Mit zehn Jahren erfährt Leah Mansour, dass sie an Multipler Sklerose leidet. Ihr Immunsystem greift den eigenen Körper an. Beschwerden können ganz plötzlich und heftig auftreten. Auf die Diagnose folgt eine jahrelange, kräftezehrende Suche nach dem richtigen Medikament
Stellen Sie sich vor, Sie stehen morgens auf, alles ist gut, Sie gehen zur Arbeit, ein ganz normaler Tag. Am nächsten Tag wachen Sie mit einem leichten Kribbeln in der linken Hand auf. Mehr nicht. Sie gehen wie gewohnt Ihrem Tag nach. Am Abend hat sich das Kribbeln ausgebreitet, hinzu kommt ein Taubheitsgefühl im linken Bein. Sie haben Schwierigkeiten beim Sprechen. Ihr Körper gehorcht Ihnen nicht mehr. Sie landen im Krankenhaus, im Rollstuhl.
So hat es Leah Mansour erlebt. Ein leichtes Kribbeln in der Hand ist für die meisten kein Grund zur Sorge. Bei ihr löste es lange Zeit Panik aus. Denn die vermeintlich harmlose Missempfindung kann in ihrem Fall ein schrecklicher Vorbote sein. „Wenn ich morgens aufwache und meine Hand kribbelt, kann es passieren, dass ich abends schon nicht mehr laufen kann. Und für mehrere Wochen ins Krankenhaus muss.“
Multiple Sklerose ist die „Krankheit der vielen Gesichter“
Die 24-Jährige leidet an Multipler Sklerose, kurz MS. Eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, die Gehirn und Rückenmark betrifft. Die Krankheit tritt in den meisten Fällen in Schüben auf. Während eines Schubs können Betroffene an Taubheitsgefühlen leiden, einem schlechten Gleichgewichtssinn, Seh- oder Sprachstörungen, starken Muskelkrämpfen, Erschöpfung.
Wie häufig, wie lange und intensiv ein Schub ist, kann niemand vorhersagen. MS wird daher auch „die Krankheit der vielen Gesichter“ genannt. Weltweit sind mehr als 2,8 Millionen Menschen davon betroffen. In Deutschland sind es rund 250.000, darunter deutlich mehr Frauen als Männer. Die meisten erhalten die Diagnose zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr.
MS-Diagnose in der Grundschulzeit
Bei Leah Mansour zeigt sich MS ungewöhnlich früh, im Alter von zehn Jahren. Im Gespräch mit FOCUS online erinnert sie sich zurück an die ersten Symptome: „Im Unterricht habe ich beim Schreiben ein Kribbeln im Rücken gespürt. Ich habe mir damals nichts dabei gedacht. Dann ging es relativ schnell bergab. Innerhalb kürzester Zeit wurden meine Finger taub, mein Bein, mein Gesicht. Es hat überall gekribbelt. Ich konnte schlecht laufen, habe das eine Bein ständig hinterhergezogen.“
Zunächst steht der Verdacht auf einen Zeckenbiss im Raum. Eine Woche später bringt eine Lumbalpunktion Gewissheit. Dabei entnehmen Ärzte mit einer Nadel Nervenwasser nahe am Rückenmark. „Ich erinnere mich gut daran, dass ich ziemlich Angst hatte. Die große Nadel. Der sterile Raum. So viele Ärzte um mich herum. Meine Eltern mussten den Raum verlassen.“
Im Anschluss die Diagnose: Es ist Multiple Sklerose. Eine unheilbare Krankheit. Für Leah Mansour beginnt die lange Suche nach dem passenden Medikament. Das Kind, das vorher kerngesund war, nie im Krankenhaus, verbringt nun so viel Zeit in Arztpraxen und Kliniken, dass an Schule nicht mehr zu denken ist.
„Musste mir oft anhören, ich sei naiv“
In den ersten Jahren nach der Diagnose bringt kein Medikament den gewünschten Effekt. Ganz im Gegenteil: Leah Mansour hat mit starken Nebenwirkungen zu kämpfen. Das erste Präparat spritzt sie sich alle zwei Tage unter die Haut. Doch es verhindert ihre Schübe nicht. Vom nächsten fängt sie sich ein gefährliches Virus ein. Eine weitere Therapie in Form von Tabletten sorgt für so schlechte Blutwerte, dass sie auch diese wieder einstellen muss.
„Ich habe immer zu mir selbst gesagt: Gib nicht auf, es werden bessere Zeiten kommen”, erzählt Mansour. “Dabei musste ich mir ganz oft anhören, ich sei naiv, weil ich so eine Einstellung habe. Aber man ist stärker als man denkt. Natürlich gibt es scheiß Phasen. Aber man wächst über sich hinaus.“
Das sechste Medikament schlägt endlich an. Im Januar 2022. Zu diesem Zeitpunkt lebt Leah Mansour bereits elf Jahre mit der Krankheit.
„Das war eine lange Suche nach dem richtigen Medikament. Das Durchhaltevermögen und die Disziplin von Frau Mansour sind bewundernswert“, kommentiert Markus Krämer. Der Leitende Oberarzt an der Klinik für Neurologie am Alfried Krupp Krankenhaus in Rüttenscheid behandelt Leah Mansour seit 2020. Durch Rückschläge habe sich seine Patientin nie entmutigen lassen, sagt er anerkennend.
Monatliche Spritzen verhindern Schübe
1995 kommt das erste Medikament auf den Markt, das Schübe bei Menschen mit Multipler Sklerose verhindern soll. „Das war ein riesiger Meilenstein, obwohl es ein recht mildes Präparat war“, sagt Krämer. Mittlerweile stehen MS-Patienten 18 Medikamente zur Verfügung. Eines davon ist ein Mittel mit dem Wirkstoff Ofatumumab. Leah Mansour spritzt es sich einmal im Monat.
Krämer erklärt: „Wir haben im Körper Abwehrzellen, T-Zellen und B-Zellen. Bei Multipler Sklerose ist die Immunabwehr durcheinandergeraten, das Immunsystem greift sich selbst an.“ Das Medikament, mit dem Mansour behandelt wird, schwächt die B-Zellen, sodass sie keinen Schaden mehr im Körper anrichten können.
Zwar sind B-Zellen wichtig, weil sie im Krankheitsfall Antikörper gegen einen Erreger bilden. Patienten, die Ofatumumab einnehmen, seien im Alltag aber nicht häufiger von Infekten betroffen als ihre Familienangehörigen, stellen Krämer und seine Kollegen erfreut fest, sofern sie vor der ersten Einnahme des Medikaments komplett durchgeimpft wurden.
„Als hätte ich einen Waschlappen im Mund“
Dank der Behandlung ist Leah Mansours letzter Schub nun fast sechs Jahre her. Damals telefonierte sie morgens mit einer Freundin, merkte, dass sie beim Sprechen klang, „als hätte ich einen Waschlappen im Mund. Abends konnte ich nur noch ,Ja‘ oder ,Nein‘ sagen.“
Das war 2019. „Dass ich heute ohne Einschränkungen hier sitzen kann, war damals nicht denkbar“, sagt Mansour im Gespräch mit FOCUS online. Sie leidet an einer besonders aggressiven Form der MS. Trotzdem habe sie es geschafft, sich ein normales Leben aufzubauen. Sie ist ausgebildete Erzieherin und arbeitet in einem Kinderheim, studiert zudem Soziale Arbeit.
Der Weg bis hierhin war nicht nur körperlich, sondern auch psychisch anstrengend. Als Teenager geriet Mansour in eine depressive Phase. „Ich hatte damals ganz viel Wut und Ärger im Bauch, habe wild um mich geschlagen. Ich habe immer wieder verlangt, dass mir jemand sagt, wer Schuld daran ist, dass ich krank bin.“ Dass Mansour eine Zwillingsschwester hat, die nicht an MS erkrankt ist, verstärkte damals ihre negativen Gedanken: „Warum ausgerechnet ich?“
Dass Patienten im Rollstuhl landen, ist die Ausnahme
Mit der Zeit habe sie gelernt, die Krankheit zu akzeptieren. Und ihr Leben bewusst zu genießen. „Niemand kann die Zukunft vorhersehen. Mit MS ist mein Risiko höher, einen Schub zu bekommen, aber es kann jedem von uns in den nächsten fünf Minuten etwas Schreckliches passieren – auch Menschen ohne die Krankheit“, sagt Mansour. „MS wird einen ewig begleiten und man sollte sich gut überlegen, wie man für immer damit umgehen möchte.“
Die Diagnose führe heutzutage nicht mehr zwangsläufig zu einem Leben im Rollstuhl, betont Neurologe Markus Krämer. Dank der guten Therapiemöglichkeiten ließen sich Schübe und eine schleichende Verschlechterung des Gesundheitszustandes in den meisten Fällen vermeiden. Wichtig sei die Kombination aus moderner Medizin und einem Patienten, der bei der Suche nach dem passenden Medikament vehement am Ball bleibe. „Dafür ist Frau Mansour das perfekte Beispiel.“