Schaltstelle Gehirn: Ein Forschungsteam hat möglicherweise einen neurologischen Mechanismus entdeckt, der Magersucht auslöst – eine weit verbreitete Essstörung. Dieser Mechanismus geht auf eine Genmutation zurück und könnte nun auch als Ansatzpunkt für eine medikamentöse Therapie gegen Anorexia nervosa dienen, wie die Psychiater berichten. Wie vielen Betroffenen würde das helfen?
Weltweit leiden Millionen Menschen an Magersucht, überwiegend Frauen. Sie haben eine gestörte Körperwahrnehmung und fühlen sich zu dick. Sie versuchen deshalb, durch Essensverweigerung und teils übermäßigen Sport immer weiter abzunehmen. Die Folge dieser zwanghaften Essstörung sind Organschäden, die im Extremfall und ohne Behandlung bis zum Tod führen können. Die Erkrankten haben auch ein erhöhtes Risiko, drogensüchtig und depressiv zu werden. Anorexia nervosa gilt daher als die psychische Erkrankung mit der höchsten Todesrate – durch Suizid oder körperliche Folgeschäden. Doch sie ist keine rein psychische Krankheit, sondern hat auch körperliche Ursachen.
Welche neurologischen Störungen im Gehirn der Essstörung zugrunde liegen können, ist bislang jedoch nur ansatzweise erforscht. Im Erbgut einiger Magersucht- und anderer Sucht-Patienten haben Forschende allerdings die Mutation VGLUT3-p.T8I entdeckt. Sie betrifft einen Glutamat-Transporter, der in speziellen Nervenzellen des Striatums die Freisetzung der Neurotransmitter Glutamat, Acetylcholin und Dopamin reguliert. Diese zu den Basalganglien gehörende Region im Zentrum des Großhirns gehört zum Belohnungssystem unseres Gehirns.
Mangel an Acetylcholin im Gehirn
Wie sich diese Mutation konkret auswirkt und welche Rolle sie für die Magersucht und andere Süchte spielen könnte, hat nun ein Team um Mathieu Favier von der McGill University in Montreal an männlichen Mäusen untersucht. Dafür führten die Forschenden mit den Tieren verschiedene Verhaltenstests in Bezug auf potenzielle Suchtstoffe durch. Zudem analysierten sie die molekularen Vorgänge im Hirngewebes.
Dabei zeigte sich, dass Tiere mit der Mutation VGLUT3-p.T8I einen Mangel an Acetylcholin im gesamten Striatum und einen Mangel an Dopamin im hinteren mittleren Teil dieser Hirnregion aufweisen. Zudem entwickelten die Mäuse ein ähnlich zwanghaftes Verhalten wie Menschen mit einer Essstörung oder Drogensucht: Sie zeigten die exzessive Gewohnheit zu hungern oder zu viel Zuckerlösung zu trinken und wurden schneller süchtig nach Kokain. Anders als Tiere, denen der Glutamat-Transporter VGLUT3 komplett fehlt, verhielten sich die Mäuse mit einer Variante dieses Transporters jedoch nicht ängstlicher.
Demenz-Medikament gegen Magersucht?
Die Forschenden testeten daraufhin, ob sich dieses selbstzerstörerische Verhalten der Mäuse verhindern lässt, wenn man ihnen das Medikament Donepezil verabreicht. Dieser Wirkstoff erhöht das Acetylcholin-Niveau im Gehirn und wird bereits zur Behandlung von Alzheimer und anderen Demenzerkrankungen verabreicht. Und tatsächlich: „Wir fanden heraus, dass das Medikament das magersuchtähnliche Verhalten bei Mäusen vollständig umkehrte“, berichtet Seniorautorin Salah El Mestikawy von der McGill University.
Die Psychiater schließen daraus, dass Donepezil auch zur Behandlung von Menschen mit Magersucht oder anderen Essstörungen wie Binge Eating oder Bulimie eingesetzt werden könnte. „Wir glauben, dass es die erste mechanismusbasierte Behandlung von Anorexia nervosa darstellen könnte”, so El Mestikawy. „Tatsächlich sehen wir bereits einen Effekt des Wirkstoffs bei einigen Patienten mit der Krankheit.“
Positive Effekte auch beim Menschen
Wie die Forschenden berichten, werden in Toronto und Montreal derzeit schon zehn Personen mit schwerer Magersucht mit niedrigen Dosen Donepezil behandelt. Bei drei der Patienten sind die Symptome der Essstörung komplett verschwunden, bei den sieben anderen haben sie sich merklich verbessert, so das Team. Noch in diesem Jahr sollen größere klinische Studien den Effekt dieses Medikaments bei Magersucht überprüfen.
Bis der Wirkstoff auch zur Behandlung von Essstörungen offiziell zugelassen wird, könnte es aber noch einige Jahre dauern, sagt El Mestikawy. Zudem ist Donepezil für Nebenwirkungen wie Bluthochdruck, Krämpfe, Übelkeit und Durchfall bekannt. Das Team um Favier sucht daher nun nach ähnlichen Wirkstoffen mit weniger Nebenwirkungen. „Wir vermuten zudem, dass andere Zwangsstörungen und Süchte ebenfalls durch Donepezil verbessert werden können. Daher suchen wir aktiv nach einer Zusammenarbeit mit anderen Psychiatern auf der ganzen Welt“, sagt El Mestikawy.
Wie viele Menschen tragen die Genvariante?
Die Folgestudien könnten dann auch Licht in die Frage bringen, wie viele Menschen die Mutation VGLUT3-p.T8I in ihrem Erbgut tragen. Aus den bisherigen Stichproben und kleineren Studien mit Personen, die zugleich unter einer Essstörung und Drogensucht leiden, lassen sich noch keine konkreten Rückschlüsse auf die Verteilung in der Bevölkerung schließen. Es deutet sich jedoch ein einstelliger Prozentsatz an.
Unklar ist bislang aber auch, ob noch andere Varianten des VGLUT3-Gens oder andere Gendefekte mit Zwangsstörungen in Zusammenhang stehen. Wie viele Menschen insgesamt ein genetisches Risiko für Essstörungen haben, ist daher derzeit nicht abschätzbar. (Nature Communications, 2024; doi: 10.1038/s41467-024-49371-1)
Quelle: McGill University
12. Juli 2024
– Claudia Krapp