HomeNachrichtPolioviren in unserem Abwasser: Das RKI macht den nächsten gefährlichen Fehler

Polioviren in unserem Abwasser: Das RKI macht den nächsten gefährlichen Fehler

In meiner Berliner Studienzeit, die schon ziemlich lange zurückliegt, hatten die Leute vom Robert Koch-Institut den Spitznamen „Impf-Onkels“. Dort ging es, so das Urteil der Biochemiestudenten, eher behördlich-ärmelschonermäßig zu.

Die angebotenen Praktika galten als wenig innovativ und passten zum Backsteinbau des Instituts aus dem 19. Jahrhundert. Der dient übrigens, bis heute, auch als Mausoleum für die Urne seines Namensgebers.

Seitdem hat das RKI einiges dafür getan, um dem Klischee der verschlafenen Beamtenruhestätte gerecht zu werden. Als 2009 – unpassender Weise an einem Wochenende – die Schweinegrippe ausbrach, war man bei der Bundesbehörde erst einmal nicht zu erreichen.

Polioviren im Abwasser: RKI gibt einen dürren Hinweis

Den Impfstoff bestellte der Bund dann mit mehrmonatiger Verspätung, und zwar auch noch den falschen (mit Wirkverstärker und vermeidbaren Nebenwirkungen, weshalb er großenteils in der Müllverbrennung landete).

Als Auslöser der EHEC-Epidemie von 2011 beschuldigten die RKI-Experten fälschlich Tomaten und Gurken, was ihnen zuerst den Groll der Landwirte und später, als die EU-Lebensmittelbehörde importierte Sprossen als Quelle identifiziert hatte, den Spott der Fachleute einbrachte.

Beim Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 versicherte der damalige RKI-Präsident Lothar Wieler der Bevölkerung, dass der Erreger nicht gefährlicher als die Grippe sei und sich „nicht sehr stark auf der Welt ausbreitet“.

Aktuell steht die geschichtsträchtige Behörde vor ihrer nächsten Herausforderung: An neun deutschen Standorten hat man Polioviren im Abwasser entdeckt. Auf seiner Website gibt das RKI dazu den dürren Hinweis:

„Generell zeigen Nachweise im Abwasser, dass es Menschen im Einzugsgebiet des Klärwerks gibt, die vom Schluckimpfung-abgeleitete Polioviren ausscheiden.“

Virusbefunde deuten auf eine ernste Gefahr hin

Das sieht nach post-covidaler Tiefenentspannung der obersten Seuchenwächter aus. Vielleicht will man auch nur, einmal mehr, Bevölkerung und Ärzteschaft nicht unnötig alarmieren.

Tatsächlich deuten die Virusfunde jedoch auf eine ernste Gefahr hin, die dringendes Handeln erfordert – und an deren Entstehung das RKI möglicherweise sogar eine Mitschuld trägt.

Der Ursprung der jetzt in Deutschland entdeckten Polioviren geht auf die weltweite Impfkampagne gegen Kinderlähmung (Poliomyelitis) zurück. Ein Vierteljahrhundert nach deren Beginn galt die schreckliche Krankheit 2015 als beinahe ausgerottet, nur in Pakistan und Afghanistan wurden noch vereinzelte Fälle registriert.

Zu verdanken hat die Menschheit dies der von Albert Sabin entwickelten, „oralen Polio-Vakzine“ (OPV). Sabin hatte zu jeder der drei Sorten des Poliovirus (Typ 1, Typ 2, Typ 3) ein abgeschwächtes Impf-Virus entwickelt, das sich zwar nach Verabreichung als „Schluckimpfung“ im Darm vermehrt und auch mit dem Stuhl ausgeschieden wird, jedoch (von sehr seltenen Ausnahmen abgesehen) keine Krankheit hervorrufen kann.

In Afrika fast jedes Land südlich der Sahara betroffen

Doch dann traf die Weltgesundheitsorganisation eine Entscheidung, die aus heutiger Sicht als folgenschwerer Fehler gilt: Nachdem der Typ 2 des Poliovirus vom Erdboden verschwunden war, nahm man 2016 die zugehörige Komponente aus dem Impfstoff heraus. Daraufhin konnten sich jedoch Typ-2-Impfviren, die von zuvor geimpften Personen noch einige Wochen ausgeschieden wurden, bei den jetzt nur noch gegen die Typen 1 und 3 geschützten Kindern ungehemmt vermehren.

Je länger ein Virus in einer Population zirkuliert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Mutationen kommt. So gewannen die Impfviren vom Typ 2 schließlich die krankmachenden Eigenschaften zurück und breiteten sich in Regionen mit schlechten Hygienestandards aus.

Diese circulating vaccine-derived polioviruses type 2 (cVDPV2) sind heute für fast alle Fälle von Kinderlähmung verantwortlich. Aktuell gibt es weltweit über 70 gemeldete Ausbrüche in 39 Staaten und wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer. In Afrika ist fast jedes Land südlich der Sahara betroffen.

RKI lässt gefährliche Erreger unbehelligt einreisen

Vor diesem Hintergrund ist der jetzt gemeldete Nachweis von cVDPV2 in deutschen Kläranlagen keine Überraschung. Der bei uns gefundene Subtyp namens „NIE‑ZAS‑1“ ist ein alter Bekannter: Er wurde bereits 2020 in Nigeria nachgewiesen und hat sich seitdem über Mali und andere westafrikanische Staaten bis nach Algerien an das Mittelmeer ausgebreitet – also in Regionen, die häufig von Flüchtlingen auf ihrem Weg nach Europa durchquert werden.

Bei Menschen auf der Flucht, die unter schlechten hygienischen Bedingungen und häufig ohne medizinische Versorgung auskommen müssen, herrschen für die Verbreitung von Polioviren optimale Bedingungen.

Damit stellt sich die Frage, warum Flüchtlinge aus den bekannten Verbreitungsgebieten der cVDPV2 bei der Ankunft nicht auf Polioviren untersucht werden. Gemäß den Empfehlungen des hierfür zuständigen Robert Koch-Instituts gehören zur „Erstaufnahmeuntersuchung“ Tuberkulose, Masern, Windpocken, Norovirus sowie Krätze (Milben) und Läuse.

Die gefährlichen Erreger der Kinderlähmung, die mit einer Stuhlprobe ohne Weiteres nachweisbar wären, lässt das RKI jedoch seit Jahren unbehelligt einreisen.

Virus wird nach Infektion nur wenige Wochen lang ausgeschieden

Auch die harmlos klingende Feststellung des RKI, wonach es in den Einzugsgebieten der positiv getesteten Klärwerke Personen gibt, die Polioviren „ausscheiden“, wird der tatsächlichen Gefährdungslage nicht gerecht.

Die Viren könnten zwar theoretisch von Menschen stammen, die sich kurz zuvor in einem Polio-Verbreitungsgebiet angesteckt haben und dann nach Deutschland gereist sind – in diesem Fall würde es sich um weniger besorgniserregende, importierte Infektionen handeln. Diese günstige, vom RKI offenbar favorisierte Erklärung ist jedoch fernliegend.

Das Virus wird nach der Infektion nur wenige Wochen lang ausgeschieden. Dass ausgerechnet in den Wintermonaten eine große Zahl kurz zuvor im Ausland infizierter Personen in neun deutsche Großstädte (Berlin, Bonn, Dresden, Düsseldorf, Hamburg, Köln, Mainz, München und Stuttgart) eingereist sein sollte, ist sehr unwahrscheinlich.

Vielleicht sieht das RKI bisher nur die Spitze des Eisbergs

Naheliegend ist dagegen die zweite, für das RKI wenig rühmliche Erklärung: Menschen aus cVDPV2-Verbreitungsgebieten haben wahrscheinlich schon seit Monaten unbemerkt Polioviren eingeschleppt, die jetzt zu Infektionen innerhalb Deutschlands führen.

Dafür spricht zum einen der Nachweis in mehreren, voneinander weit entfernten Städten und zum anderen die Tatsache, dass die Viren bereits seit November 2024 wiederholt gefunden wurden. Ohne Infektionsketten im Lande, so genannte autochthone Infektionen, ist dies kaum erklärbar.

Davon abgesehen ist es gut möglich, dass das RKI bisher nur die Spitze eines Eisbergs sieht: Die Polioviren wurden eher zufällig im Rahmen eines kürzlich begonnenen Forschungsprojektes entdeckt.

Da es keine systematische Überwachung gibt, könnten die Erreger schon länger und auch in anderen Städten und Gemeinden vorhanden sein. Sofern diese Beurteilung zutrifft, besteht dringender Handlungsbedarf, und zwar aus drei Gründen.

Erheblicher Teil Geflüchteter ist vermutlich nicht gegen cVDPV2 geschützt

Erstens müssen die Geflüchteten, so paradox es klingen mag, vor einer Ansteckung in Deutschland geschützt werden. Bei der Aufnahme soll zwar der Impfstatus erfragt und gegebenenfalls eine Immunisierung angeboten werden.

Die Impfungen (außer Masern) sind jedoch freiwillig und Flüchtlinge wissen häufig nicht, ob sie eine Spitze gegen Polio bekommen haben oder ob eine Schluckimpfung mit der Zweifach- oder der Dreifachvakzine erfolgte. Es ist deshalb davon auszugehen, dass ein erheblicher Teil der Geflüchteten nicht gegen cVDPV2 geschützt ist.

Zweitens bestehen auch bei der deutschen Wohnbevölkerung gefährliche Impflücken gegen Polio. Gemäß einer aktuellen Auswertung des RKI haben mehr als eine halbe Million Kinder eines Geburtsjahrgangs mit 12 Monaten noch nicht den (für dieses Alter empfohlenen) vollständigen Impfschutz. Mit zwei Jahren sind es demnach immer noch mehr als 180.000 Kinder pro Jahrgang, in manchen Landkreisen liegt die Impfquote sogar unter 60 Prozent.

Zudem ist davon auszugehen, dass sich Teile der Bevölkerung aus ideologischen, religiösen oder anderweitigen Überzeugungen nicht impfen lassen. Da diese Menschen teilweise miteinander Kontakt haben, ist das Verbreitungsrisiko dort besonders hoch.

Polioviren wird man nur schwer wieder los

Wer sich bis hierhin nicht angesprochen fühlt, sollte die dritte Warnung ernst nehmen: Auch Menschen, die vollständig gegen Polio geimpft wurden, sind nicht immer vor einer Ansteckung geschützt.

Weil die abgeschwächte Lebendvakzine nach Sabin in seltenen Fällen selbst eine Kinderlähmung auslösen konnte, hat man die Schluckimpfung in Deutschland seit 1998 durch einen Impfstoff ersetzt, der nur abgetötete Viren enthält (inaktivierte Polio-Vakzine nach Salk, IPV).

Die inaktivierte Vakzine, die nach aktueller STIKO-Empfehlung insgesamt viermal per Injektion verabreicht wird, schützt zwar sicher vor Kinderlähmung; sie kann jedoch eine Infektion nicht verhindern: Bei IPV-Geimpften vermehrt sich das Virus nahezu ungehemmt im Darm und wird über den Stuhl ausgeschieden.

Deshalb können sich Polioviren in Industrieländern, die schon lange auf die inaktivierte Vakzine umgestiegen sind, in großem Stil verbreiten, ohne dass dies durch das Auftreten von Kinderlähmungen bemerkt wird.

Wenn sich Polioviren erst einmal in einer Population eingenistet haben, bekommt man sie kaum wieder los. Selbst unter ungeimpften Kindern verläuft die Erkrankung in 75 Prozent der Fälle ohne Symptome, der Rest hat grippeähnliche Erscheinungen oder unspezifische neurologische Beschwerden.

Aufruf des RKI ist richtig und wichtig

Die gefürchteten Lähmungen treten nur bei einer von 200 Infektionen auf. Wer mit der inaktivierten Vakzine geimpft wurde, bemerkt von einer Poliovirus-Ansteckung nichts oder hat allenfalls leichte Magen-Darm-Beschwerden.

Der Aufruf des RKI zur Schließung von Impflücken ist richtig und wichtig, reicht aber als Gegenmaßnahme nicht aus. Flüchtlinge aus den Verbreitungsregionen müssen im Rahmen der Erstaufnahmeuntersuchung auf Polio getestet werden.

Wir brauchen flächendeckende und systematische Abwasseruntersuchungen, um ein vollständiges Lagebild zu bekommen. In Großstädten reicht es auch nicht aus, nur eine zentrale Kläranlage zu testen.

Um die Quellen der Polioviren einzugrenzen, sollen gemäß der einschlägigen WHO-Empfehlung die Sammelstellen so gewählt werden, dass die Abwässer von höchstens 300.000 Personen erfasst werden.

Asylsuchende können nichts für die Problematik

Daneben kommt die gezielte Untersuchung von Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende und Geflüchtete in Frage, um Ausscheider zu identifizieren und Infektionsketten zu unterbrechen.

Nicht zuletzt sollte die Gefahr offen kommuniziert werden. Dazu gehört die Sensibilisierung der Ärzte und des öffentlichen Gesundheitsdienstes, die bislang kaum mit der Diagnostik von Poliovirus-Infektionen zu tun hatten.

Die Bevölkerung muss wissen, wie das Virus übertragen wird, dass Ungeimpfte schwer und auch tödlich erkranken können und dass für Geimpfte keine Gefahr besteht. Und schließlich gibt es noch eine weitere, genauso wichtige Botschaft: Asylsuchende können absolut nichts dafür, dass die Berliner Impf-Onkels für sie keine Polio-Tests vorgesehen haben.

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