In Anbetracht des wolkenverhangenen Himmels, der Nässe und Kälte, kann der Herbst mächtig auf die Stimmung schlagen. Um dem Herbstblues zu entkommen, frönen viele Menschen der Self Care, also Selbstfürsorge. Kerzen an, ab in die Badewanne und alles wird gut – so zumindest die Hoffnung. Sicherlich können kleine Gemütlichkeiten und Verwöhnmomente kurzzeitig helfen. Aber manchmal braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, um sich besser zu fühlen.
Wie das am besten funktioniert, weiß Psychologin und Autorin Ilona Bürgel. Sie ist Expertin für Positive Psychologie – eine Wissenschaft, die Ende der 1990er-Jahre insbesondere durch den damaligen Präsidenten der American Psychological Association, Martin Seligman, initiiert wurde – und auf selbstbestimmtes Wohlbefinden spezialisiert. Die Dresdnerin praktiziert selbst fast jeden Tag, was sie ihren Klienten ans Herz legt.
1. Alleinsein
„Eine Strategie, die ich erst in den letzten Jahren für mich erschlossen habe, ist das Alleinsein“, sagt Bürgel im Gespräch mit FOCUS online – ein Thema, das in unserem Kulturkreis negativ besetzt sei. Menschen, die allein sind, werde suggeriert, dass sie überflüssig wären oder keine sinnvollen Aufgaben hätten.
Außerdem hätten viele Menschen in der heutigen beschäftigten Gesellschaft das Alleinsein verlernt. „Die meisten von uns können überhaupt nicht aushalten, wenn mal nichts passiert und einfach Stille ist“, erklärt Bürgel. „Dabei ist das Alleinsein aus meiner Sicht der wertvollste Moment, um sich zu erholen, in Kontakt mit sich zu sein, aber auch, um seine Ressourcen zu schützen.“
Wichtig sei dabei, nur für sich zu sein – ohne Ablenkung durch andere Menschen oder Medien. Sich dann hinzusetzen und auf die Atmung zu achten, könne beruhigend wirken. Es werde Stress abgebaut und die ganze Informationsflut des Tages verarbeitet. Am besten gelinge das draußen, berichtet Bürgel aus eigener Erfahrung: „Was ich wirklich jeden Tag mache, ist allein in der Natur zu sein. Ich setze mich dann auf eine Bank unter einen Baum. Besonders gern sitze ich an Springbrunnen und genieße das Plätschern des Wassers. Oder ich gehe einen Waldweg oder an einem Fluss entlang.“
2. Dehnen
„Auch wenn ich Psychologin bin, möchte ich immer wieder daran erinnern, dass wir unseren Körper mehr in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rücken dürfen, weil wir eine sehr verkopfte Gesellschaft sind“, sagt Bürgel. „Wenn der Körper angespannt ist und nicht genug Erholung hatte, dann nützen uns die tollsten mentalen Strategien nichts.“
Auf den Körper zu hören, sei für das psychische Wohlbefinden essentiell. Schließlich melde er sich, wenn er etwas brauche. Häufig würden wir jedoch die Signale des Körpers ignorieren. Eine Möglichkeit, Kontakt mit dem Körper herzustellen, sei das Spazierengehen. Bürgel betont, dass es dabei auf das Entschleunigen ankomme – Joggen sei in dem Fall also kontraproduktiv.
In einer auf Leistung getrimmten Welt leben seien Körper und Geist ständig unter Strom. „Das merken wir auch, wenn wir abends nicht zur Ruhe kommen und die Gedanken weiter kreisen“, sagt Bürgel. Oft würden wir diese Grundanspannung nicht oder auf die falsche Art und Weise ausgleichen. „Die Lockerheit, die wir uns oft wünschen, können wir durch Dehnen erreichen“, erläutert die Psychologin.
Sie empfiehlt mindestens 15 Minuten Stretching am Tag. „Ich persönlich schaffe es meistens zweimal am Tag, mich zu dehnen. Einmal früh nach meiner Sporteinheit und einmal abends, bevor ich schlafen gehe“, sagt Bürgel.
3. Dankbarkeit
Für das eigene Wohlbefinden spiele auch Dankbarkeit eine große Rolle. „Sie steht sehr im Mittelpunkt der Gehirn- und Meditationsforschung, weil davon ausgegangen wird, dass sie positive Effekte für Körper und Geist hat“, sagt Bürgel. Die gute Energie, die wir durch Dankbarkeit spüren, geben wir automatisch an andere weiter, erklärt die Psychologin.
Sie selbst habe begonnen, Dankbarkeitstagebücher zu schreiben. Anfangs habe sie jeden Tag drei Dinge notiert, für die sie dankbar sei. Da dies jedoch schnell zu einer Routine verkommen kann, die man täglich abarbeitet, schreibt Bürgel mittlerweile einmal die Woche in ihr Tagebuch. „Das mache ich in einem ruhigen Augenblick mit ganz viel Zeit, auch mit schöner Musik und Umgebung. Ich lasse nochmal Revue passieren, wofür ich die Woche dankbar bin und fühle das beim Aufschreiben nochmal“, sagt sie.
Je häufiger wir das praktizieren, desto mehr verselbständige sich die Dankbarkeit. „Inzwischen gehe ich durchs Leben und sehe und spüre überall Dinge, für die ich dankbar sein kann“, berichtet Bürgel. „Darauf konzentriere ich mich umso mehr, je schwieriger eine aktuelle Lebenssituation ist, weil uns negative Erfahrungen ganz viel Kraft kosten.“ Wenn wir uns in Dankbarkeit üben, sei es auch leichter, neue gute Dinge zu erkennen. „Das ist dann ein positiver Kreislauf, den wir erzeugen.“
4. Meditation
Darüber hinaus meditiert Bürgel mehrmals täglich. „Was ich jeden Tag mache, ist eine Form der Meditation, bei der ich den Kopf absolut frei bekomme, weil wir oft vergessen, dass wir unsere Gedanken denken, und an ihnen hängen Gefühle“, sagt sie. Manchmal würden wir jedoch die Kontrolle über unsere Gedanken abgeben und uns von ihnen dominieren lassen.
„Ich habe das in schwierigen Situationen in den letzten Jahren mit coronabedingter Arbeitslosigkeit, Trennung und der Pflege meiner Eltern gemerkt“, sagt Bürgel. In dieser extremen Belastungssituation hätten ihre Gedanken verrückt gespielt, was ihr noch mehr Kraft genommen habe. Das Differenzieren, wann die Gedanken konstruktiv sind oder nur verunsichern, sei in solchen Momenten nicht möglich.
Meditation könne dabei helfen, diesem Gedankenzirkus zu entfliehen. Sie kann nur wenige Sekunden bis zu einer Stunde dauern. Bürgel nutze dafür Anleitungen von Eckhart Tolle, Joe Dispenza und Frank Kinslow. „Dann kommt ein ganz großes inneres Wohlbefinden und innerer Frieden“, sagt die Psychologin. Als Meditationsexpertin könne sie sich bis zu einer Stunde von störenden Gedanken befreien.
Ein von ihr entwickeltes Hilfsmittel bei der Meditation sind „Wohlfühl-Mantras“. Sie bauen auf der Zuversicht auf, dass Körper, Geist und Seele ein Problem bewältigen können. Die Mantras beginnen mit der Formulierung „Liebes Ich“, woraufhin etwas folgt, wobei wir Hilfe benötigen. „Mein Lieblingswohlfühl-Mantra ist ,Liebes Ich, erhole mich’“, sagt Bürgel. „Das sage ich mehrmals vor mich hin, wenn ich eine Meditation anfange, und dann merke ich schon, wie der Entspannungszustand beginnt.“
Zudem verwende sie gern das Mantra „Liebes Ich, führe mich“, wenn sie zu einem Problem gerade noch keine Lösung wisse. „Es ist völlig egal, ob das eine alte Erkenntnis ist, die jetzt kommt, oder ob ich intuitiv etwas erfühle, wo der Weg hinführen soll“, sagt sie.
Die Mantras hätten zwei Vorteile: Einerseits könnten wir während der Äußerung kaum an etwas anderes denken, was uns von diesem guten Zustand wegführt. Andererseits könnten plötzlich Lösungen erscheinen.
5. Authentische Selbstfürsorge
Wir hinterfragen selten, ob wirklich zu uns passt, was etwa die Familie oder ein bestimmter Kulturkreis von uns erwarten. „Häufig sind es auch Trends, die man mitmacht, ohne sie zu hinterfragen“, sagt Bürgel. Ein Beispiel dafür sei das Intervallfasten, das manchen Menschen gut tue – und anderen wiederum nicht, weil sie eine feste Struktur beim Essen brauchen.
Ein persönliches Beispiel der Psychologin: „Früher war es für mich extrem schwer, wenn ich auf Feiern war. Alle Freunde haben Party gemacht und ich war um 22 Uhr einfach müde. Oft habe ich mich dazu gezwungen, noch ein bisschen dabei zu sein, damit ich nicht immer die Spaßbremse bin.“
Die anschließende Übermüdung habe sich dann allerdings tagelang in Form eines gestörten Schlafrhythmus’ und schlechter Stimmung geäußert. Schließlich habe sie sich vom Druck und dem ständigen Vergleichen mit anderen freigemacht. „Ich bin mindestens genauso toll wie die anderen, egal wann ich zu Bett gehe.“
Bisweilen falle es uns schwer festzustellen, was das eigene Wohlbefinden fördert und was nicht. Da helfe Experimentieren. „Ich probiere sehr viel aus und versuche dann ganz ehrlich mit mir zu sein: War das jetzt gut für mich oder nicht?“, sagt Bürgel. Ausgehend von dieser Erkenntnis sorge man authentisch für sich selbst.
6. Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen
„Ich habe seit 20 Jahren als Richtlinie für meine Arbeit und mein Leben den Gedanken: erst das Wohlbefinden, dann die Leistung“, sagt die Psychologin. Ein Leitsatz, der in unserem Kulturkreis umgekehrt gelte und viele an ihre Belastungsgrenzen bringt. Investierten wir jedoch zuerst in unser Wohlbefinden, würden sich daraus andere Quellen für unsere mentale und körperliche Leistungsfähigkeit ergeben.
Viele Menschen hätten allerdings das Problem, dass sie Bedingungen für ihr Wohlbefinden aufstellen. Dazu gehörten Prämissen wie: Erst wenn die Wohnung sauber ist, fühle ich mich wohl. Teilweise sind diese Voraussetzungen jedoch unerfüllbar oder nicht beeinflussbar, zum Beispiel wenn es darum geht: Ich fühle mich erst gut, wenn es allen anderen gut geht.
Wir sollten trainieren, uns unabhängig von äußeren Einflüssen wohlfühlen zu können. „Unsere Gedanken und Gefühle können wir immer leiten. Wir können immer aufhören, etwas Trauriges zu denken und uns entscheiden, uns einen Moment zurückzulehnen und uns an etwas Schönes zu erinnern“, sagt Bürgel. Dazu zählen zum Beispiel die Visualisierung eines Urlaubsmomentes oder eines Naturereignisses. Dabei würden wir lernen, wie sich Wohlbefinden im Körper anfühlt. Die Psychologin ist überzeugt: „Wenn wir das trainiert haben, dann können wir immer und überall diesen Moment des Wohlbefindens ohne irgendwelche Bedingungen herbeizaubern.“