Jerewan. 130.000 Geflüchtete, Abkehr von Russland: Armenien befindet sich im Umbruch. Ein früherer Erzbischof sorgt allerdings für Unruhe.
Der Mann, der Armeniens nächster Premierminister werden will, sieht von weitem aus wie ein esoterischer Guru. Bischof Bagrat Galstanjan steht auf einer kleinen Bühne auf dem Platz der Republik im Zentrum Jerewans. Hinter ihm flimmert eine psychodelische Grafik, die an einen 90er-Jahre-Bildschirmschoner erinnert. Doch statt versöhnender Predigten gibt es hier spaltendes politisches Programm. Galstanjan ruft: „Für uns gibt es keinen anderen Wert als unsere Heimat und unsere Ehre. Wir müssen niemandem dienen, weder drinnen noch draußen.“
Zum ersten Mal seit drei Monaten ruft seine „Befreiungsbewegung“ an diesem warmen Oktoberabend zu Protesten gegen die Regierung auf. Ein paar hundert Menschen, nicht wenige mit rot-blau-orangen Armenienflaggen lauschen seinen Worten. „Gemeinsam werden wir zum öffentlich-rechtlichen Fernsehsender gehen, denn dort ist der Herd der Lügenpropaganda, die Höhle des Bösen“, ruft Galstanjan am Ende seine Rede. Und unter dreifachen „Armenien!“-Rufen setzen sich die Menschen in Bewegung zum Marsch zur Zentrale des armenischen Staatsfernsehens.
Später am Abend wird er dort 25 Minuten bekommen, um seine politischen Ideen vorzustellen. Er wirft vor allem Premierminister Nikol Paschinjan vor, das Land an Aserbaidschan und die Türkei auszuliefern. Fragen des Moderators will er im Fernsehen nicht beantworten: „Ich bin hier nicht im Verhör.“
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Armenien und Russland: Abkehr von der einstigen „Schutzmacht“
Galstanjan, bis vor wenigen Monaten armenisch-apostolischer Erzbischof der nordöstlichen Provinz Tawusch, gilt als neue schillernde Figur in der armenischen Politik. Viele seiner Anhänger fühlen sich verraten von der Regierung, die aktuell versucht, ein Friedensabkommen mit Aserbaidschan zu verhandeln und dafür auch zu schmerzhaften Kompromissen bereit ist. Es gibt Hinweise, dass Galstanjans nationalistische Bewegung von Russland unterstützt und auch finanziert wird. Wer an diesem Tag mit den Protestierenden spricht, hört nichts Positives über Russland. Viele hier fühlen sich auch verraten von der einstigen „Schutzmacht“, die im vergangenen Herbst wenig unternahm, als Aserbaidschans Truppen in Bergkarabach einmarschierten.
Der Krieg, er führte auch zu einer außenpolitischen Wende im Rekordtempo. Im Frühjahr kündigte Ministerpräsident Paschinjan den Austritt aus dem von Russland geführten Nato-Pendant Organisation für kollektive Sicherheit an — auch, wenn Russland weiterhin wirtschaftlich wichtig ist. Stattdessen kündigte Paschinjan an, demnächst einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft stellen zu wollen.
Auch in der Gesellschaft ändert sich die Einstellung gegenüber Russland in rasantem Tempo: Sahen vor fünf Jahren noch über 87 Prozent das Verhältnis mit Russland als gut an, waren es 2023 laut einer Studie des International Republican Institut nur noch gut 30 Prozent. An Ansehen gewinnt dagegen die EU, die Armenien mit einer Beobachtermission an der Grenze zu Aserbaidschan unterstützt: 87 Prozent sahen in der Studie von 2023 das Verhältnis zur EU als gut an.
Will Aserbaidschan wirklich Frieden?
Die größte Hürde für eine mögliche EU-Mitgliedschaft Armeniens bleibt jedoch ein nachhaltiger Friedensvertrag mit dem Nachbarn und Rivalen Aserbaidschan. „Wir haben einen fast ausgehandelten Friedensvertrag mit Aserbaidschan“, sagt Armeniens stellvertretende Außenminister Parujr Hovhannisjan im Gespräch. „Doch wir haben den Eindruck, dass sie keinen Frieden wollen.“
Auch nach dem Krieg von 2023 provoziert Baku immer wieder mit Provokationen an der Grenze, zum Teil wurden auch Gebiete annektiert, die völkerrechtlich zu Armenien gehören. In Gesprächsformaten versucht die EU zwischen beiden Ländern zu vermitteln, doch durch Gas-Deals, aber auch Events wie die Weltklimakonferenz in Baku gelingt es dem Regime von Aserbaidschans Machthaber Ilham Aliyev immer wieder, seinen Einfluss auszuspielen.
Doch nicht nur die unbefriedigenden Verhandlungen mit Aserbaidschan sind für Armeniens Regierung eine Herausforderung. Durch die Eroberung Bergkarabachs wurden 130.000 ethnische Armenier nach Armenien vertrieben. „Unterkünfte und Arbeitsplätze für die Menschen zu finden, ist die größte Herausforderung“, sagt Hovhannisjan. Auch wenn die Flüchtlinge als Armenier eigentlich Anspruch auf die armenische Staatsbürgerschaft haben, besitzen die wenigsten von ihnen einen armenischen Pass. Laut dem stellvertretenden Außenminister mache dies einfacher, international Hilfe für die Menschen zu organisieren. Doch Kritiker monieren, dass die Regierung so Menschen vom Wählen abhalten will, die gegen die Regierung stimmen könnten.
Viele wirtschaftliche Probleme sind noch ungelöst
Auch die Soziologin Sona Balasanjan vom Caucasus Research Center sieht die Integration der Bergkarabach-Flüchtlinge als große Herausforderung für die armenische Gesellschaft. Mit Baklava und Kaffee begrüßt sie in dem modern eingerichteten Startup-Büro am Rande der Jerewaner Innenstadt, wo sie und ihre Kollegen unabhängige soziologische Studien über die armenische Gesellschaft durchführen und damit auch politische Akteure informieren.
„Wir haben zwar dieselbe ethnische Zugehörigkeit, aber die Menschen sind vertrieben worden. Sie haben alles zurückgelassen und wollen in Armenien ein neues Leben beginnen. Und das ist eine Krise sowohl für die Institutionen als auch für die Regierungsinstitutionen und die Gesellschaft“, sagt Balasanjan. Für sie ist diese Flüchtlingskrise die neueste Krise in einer Reihe von Krisen: „Durch den Krieg ist Sicherheit das größte Problem, aber wir haben immer noch viele wirtschaftliche Probleme. Und natürlich wird nun das Problem der Armut und der Arbeitslosigkeit eher vertieft als gelöst werden.“
Die zwei Kriege innerhalb von drei Jahren haben der armenischen Gesellschaft zugesetzt. Hinzu kommen Probleme wie Korruption, Arbeitslosigkeit und Inflation. „Ich würde es so beschreiben, dass die Gesellschaft sich von der Regierung, der Politik und den Bewegungen isoliert hat, dass die Massen einfach müde sind. Sie wollen etwas Zeit. Sie wollen eine Pause von diesem Zustand. Selbst wenn etwas sehr Massives passiert, sieht man, dass die Leute nur noch apathisch sind“, sagt Balasanjan.
Eine traumatisierte Generation
Diese Apathie ist auch im Gespräch mit jungen Menschen zu merken. Wer vor der Jerewaner Staatsuniversität mit Studierenden spricht, hört von vielen, dass sie die aktuelle politische Lage Armeniens schwierig finden. „Wir haben viele ungelöste Probleme bezüglich unserer Unabhängigkeit und unser Land ist nach dem Verlust von Bergkarabach immer noch in Gefahr“, sagt Ellen, die Englisch und Französisch studiert und als Schauspielerin arbeitet.
Doch auch wenn sie unzufrieden ist, will sie Armenien nicht verlassen, um etwa in Europa zu arbeiten: „Ich möchte die verschiedenen Kulturen verschiedener Länder und alles sehen, aber ich möchte trotzdem in meinem Land leben und Gutes für mein Land tun, denn das brauchen wir am meisten. Wir müssen für unser Land arbeiten. Wir müssen unser Land besser machen“, sagt Ellen. Wie viele junge Armenier steht sie patriotisch zu ihrer Heimat — insbesondere nach den letzten Kriegen. Doch politisch engagieren will sie sich nicht: „Ich mag Politik wirklich nicht und ich glaube nicht, dass uns Proteste helfen werden.“
Soziologin Balasanjan sieht gerade die junge Generation durch den Krieg traumatisiert: „Die jungen Leute waren nach den Ereignissen sehr enttäuscht. Einige von ihnen, die meisten von ihnen, haben Freunde oder Brüder im Krieg verloren.“ Statt einen gemeinsamen Plan für die Zukunft zu entwickeln, ziehen sich viele ins Private zurück und kümmern sich um ihre Familien. „Und diese Enttäuschung der Jugend und die Angst vor Veränderung schlägt leider auch in Stimmungen und in nationalistische Stimmungen um.“
Und so ziehen populistische Anführer wie Bagrat Galstanjan auch viele junge Leute an. Doch wer auf seiner Demonstration mit jungen Protestierenden spricht, merkt, dass viele auch den nationalistischen Predigten des einstigen Bischofs keinen Glauben schenken. Er ist für sie nur ein Ventil, um ihren Frust und ihren Unmut loszuwerden. Ein klares Programm für Armeniens Zukunft liefert er auch nicht. Doch eine klare Perspektive könnte Armeniens Gesellschaft nun gebrauchen.