Der mutmaßliche Amokfahrer von Mannheim war mehrfach wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung. Welche Möglichkeiten haben Staat und Medizin in solchen Fällen?
Der nach der Todesfahrt in Mannheim festgenommene 40-jährige Alexander S. war zuvor wiederholt wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung. Die Staatsanwaltschaft wertet zurzeit Arztberichte aus.
In diesem Zusammenhang stellen sich Fragen: Welche Eingriffsmöglichkeiten hat der Staat und die Medizin? Und ist Angst vor psychisch Erkrankten angebracht oder übertrieben?
Der Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, Andreas Meyer-Lindenberg, sagte im SWR-Interview, dass solche Taten auch von Fachleuten nur extrem schwer vorauszusehen seien. Das würden wissenschaftliche Daten zeigen:
Zu wenig Therapieplätze
Bei Psychotherapieplätzen gibt es nach Angaben der zuständigen Berufskammer aus dem Jahr 2023 einen Mangel. Jedes Jahr erkranken demnach rund 20 Millionen Menschen psychisch, aber nur 1,9 Millionen Menschen erhalten nach diesen Zahlen jährlich psychiatrische Hilfe oder einen Therapieplatz. Die Wartezeit betrage in der Regel mehrere Monate.
Mannheim
Motiv weiter unklar
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SWR BW
Die Zahl der Therapieplätze ist demnach gemessen an den steigenden Fallzahlen eher gering. Straftaten psychisch kranker Ausländer in Deutschland haben diese Diskussion noch befeuert. Bisweilen wird die Ansicht geäußert, in Deutschland sei die Behandlung solcher Personen nicht ausreichend.
Zahl psychisch Kranker könnte steigen
Dabei könne die Nachfrage nach Therapieplätzen bis 2030 nach Ansicht der Psychotherapeuten-Kammer noch um weitere 30 Prozent steigen. Das habe Folgen, weil psychische Erkrankungen chronisch werden, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt werden. Wie viele Therapiesitze es in der Region gibt, legt ein Bundesausschuss in Berlin fest. Ein Beispiel: In Mannheim gibt es insgesamt 307 Psychotherapeuten.
Depressionen, Angststörungen, Drogenmissbrauch
Generell steigt die Zahl psychischer Erkrankungen in unserer Gesellschaft: Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie schreibt, dass bundesweit mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung erfüllt. Zu den häufigsten Krankheitsbildern zählen Angststörungen, Depressionen und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentengebrauch. Also gibt es nach dieser Zählart rund 18 Millionen Betroffene jährlich.
Psychisch kranke Straftäter werden unter anderem im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden (PZN) in Wiesloch (Rhein-Neckar-Kreis) behandelt SWR
Immer mehr Arbeitsausfälle
Aus dem “Gesundheitsatlas Deutschland” der AOK geht hervor, dass 12,5 Prozent der Deutschen im Jahr 2022 an Depressionen litten, das wären dann rund zehn Millionen Betroffene. Zahlen der Krankenkasse DAK aus dem Psychreport 2023 zeigten, dass die Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankungen im Zehn-Jahres-Vergleich um 48 Prozent zugenommen haben.
Das Robert Koch-Institut (RKI) informiert, dass etwa 28 Prozent der Erwachsenen in Deutschland innerhalb eines Jahres an einer psychischen Erkrankung leiden.
Neigung zu Gewalttaten bei psychisch Kranken höher
Weitere Studien zeigen, dass rund zwei Prozent der Normalbevölkerung, überwiegend Männer jüngeren Alters, zu Gewalttaten neigen. Bei psychisch Kranken liegt der Anteil bei vier Prozent. Der Anteil ist demnach doppelt so hoch, in absoluten Zahlen aber weiter gering. Die meisten psychisch Kranken sind friedlich.
Wenn man Mord und Totschlag betrachtet, ist die Rate von psychisch Kranken offenbar allerdings erheblich höher. Schätzungen von Experten gehen von 50 bis 90 Prozent aus. Zwei Studien aus den USA unterstreichen diese These.
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Gewalttaten und Drogen?
Weitere Aussagen von Fachleuten gehen eher in eine andere Richtung. Psychisch Kranke neigen zu Gewalttaten demnach nur dann, wenn zusätzlich Drogen konsumiert würden, so ein Sprecher des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim (ZI) und die ärztlichen Direktorin des Psychatrischen Zentrums Nordbaden gegenüber dem SWR in Mannheim.
Drogen verändern Wahrnehmung und fördern offenbar auch den Hang zu Gewalttaten bei psychisch kranken Menschen. picture-alliance / Reportdienste picture alliance/dpa | Marcel Kusch
Was kann der Staat tun, um die Gesellschaft zu schützen?
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte nach der Todesfahrt in Mannheim: “Wir tun, was der Staat tun kann, um seine Bürger zu schützen.” Das ist allerdings durch zahlreiche Rechtsnormen und Gesetze eingeschränkt.
Weitgehende Selbstbestimmungsrechte
Psychisch Kranke genießen mittlerweile weitgehende Selbstbestimmungsrechte. Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention lehnen Zwangsbehandlung und Zwangsmedikation ab. Die EU-Grundrechtecharta bekräftigt das und auch eine EU-Richtline aus dem Jahr 2011. Dafür gibt es gute Gründe. Schließlich wird nur ein kleiner Bruchteil der Betroffenen tatsächlich gewalttätig.
Hinzu kommt das Grundgesetz auf nationaler Ebene in Deutschland: Artikel 1 (Würde des Menschen) und Artikel 2 (Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung).
Detailregelungen in Ländergesetzen
Die Bundesländer regeln das dann nochmal einzeln. Das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) in Baden-Württemberg legt ebenso wie die Gesetze anderer Bundesländer strenge Bedingungen fest: Die Maßnahme muss notwendig sein, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden von Patienten abzuwenden. Es dürfen keine milderen Mittel verfügbar sein, die gleichermaßen effektiv sind.
Eingriffsmöglichkeiten der Medizin gering
Es bedarf einer richterlichen Genehmigung. Und es gibt Einspruchsmöglichkeiten für die Patienten. Das PsychKHG in Baden-Württemberg legt fest, dass Zwangsmedikationen nur unter strengen gesetzlichen Voraussetzungen und mit richterlicher Genehmigung erfolgen dürfen. Die Eingriffsmöglichkeiten für Staat und Medizin sind gegen den Willen eines Patienten also eher gering.