Prävalenz von Multipler Sklerose (MS) bei älteren Menschen
Die Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) von Multipler Sklerose (MS) bei älteren Menschen hat in den letzten Jahren zugenommen, was vor allem auf verbesserte Diagnosemethoden und eine erhöhte Lebenserwartung zurückzuführen ist. Früher wurde angenommen, dass MS selten nach dem 50. Lebensjahr neu auftritt. Heute jedoch wird erkannt, dass es durchaus Fälle von sogenannter „Late-Onset-MS“ gibt, die etwa 5 Prozent aller MS-Diagnosen ausmachen.
Die gestiegene Prävalenz ist auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Bevölkerung insgesamt älter wird und somit der Anteil älterer Menschen mit MS wahrscheinlich weiter steigen wird. Zudem hat die verbesserte medizinische Versorgung dazu geführt, dass die Lebenserwartung von MS-Patienten nahezu normalisiert wurde. Während Betroffene früher im Durchschnitt 15 Jahre weniger lebten, ermöglicht die moderne Immuntherapie heute eine normale Lebenserwartung. Dies bedeutet, dass sowohl Neu- als auch bereits in jüngeren Jahren diagnostizierte Fälle von MS im Alter zunehmen werden.
Von den etwa 280.000 Betroffenen in Deutschland sind fast 40 Prozent älter als 50 Jahre und sogar bei über 80-Jährigen wird MS diagnostiziert. Es ist daher wichtig zu erkennen, dass MS nicht nur eine Krankheit jüngerer Menschen ist, sondern auch im Alter auftreten kann und dies auch zunehmend tut.
Der Facharzt für Neurologie Dr. med. Mimoun Azizi, M.A., ist seit 2021 Chefarzt der Geriatrie/Neurogeriatrie am Allgemeinen Krankenhaus Celle. Darüber hinaus ist er Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und besitzt u.a. Zusatzqualifikationen in der Notfallmedizin, Geriatrie und Palliativmedizin. Der Autor verschiedener Fachbücher und -artikel besitzt zudem einen Magister der Politikwissenschaften und Soziologie sowie einen Master der Philosophie.
Wie beeinflusst das Alter den Verlauf und die Symptome von Multipler Sklerose?
Visuelle Störungen, die bei MS-Betroffenen vor dem 50. Lebensjahr häufig auftreten wie zum Beispiel Neuritis Nervi Optici (auch als Optikusneuritis bekannt), sind bei Betroffenen im Alter selten anzutreffen. Visuelle und sensible Störungen sind als Erstmanifestationssymptome im Alter seltener als bei jüngeren Betroffenen. Das bedeutet, dass ältere Betroffene zunächst eher unter Gangstörungen, Koordinationsstörungen und Lähmungen leiden.
Eine MS-Erkrankung im Alter hat meistens eine weitere Einschränkung der Teilhabe am Leben zur Folge. Bereits bestehende Defizite wie Gang- und Gedächtnisstörungen können durch eine neuauftretende MS-Erkrankung verstärkt werden. Ab dem Rentenalter sind bei MS-Patienten die kognitiven Einschränkungen stark ausgeprägt. Die MS-Demenz führt dazu, dass Betroffene nicht mehr im Hier und Jetzt leben. Sie vergessen quasi, dass sie an MS erkrankt sind. Auch im Alter gibt es MS-Patienten, die nicht so schwer betroffen sind.
Hier könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass diese die Erkrankung psychisch besser bewältigen könnten, weil sie womöglich beruflich trotz der Erkrankung alles schaffen konnten und die familiäre Struktur ihnen Halt gibt. Das könnte im Rentenalter für eine gewisse Gelassenheit sorgen. Diese Annahme mag auf den einen oder anderen zutreffen. Sie sollte aber nicht zu einer allgemeingültigen Aussage verleiten, ältere MS-Patienten könnten besser mit ihrer Krankheit umgehen als Jüngere. Dafür ist die Erkrankung mit den 1000 Gesichtern selbst zu individuell.
Die Rolle des Immunsystems
Das Immunsystem wird im Laufe des Lebens durch Infektionen und Umwelteinflüsse trainiert. Es ist lernfähig und entwickelt Mechanismen der Abwehr, um den menschlichen Organismus vor Schaden zu bewahren. Das ist die Ursache dafür, dass Menschen älter werden können. Dennoch verliert das Immunsystem im Alter seine Durchschlagskraft.
Das angeborene und das adaptive Immunsystem verändern sich im Alter. Das zeigt sich in einer deutlich verminderten Regenerationsfähigkeit und in einem Anstieg chronischer Entzündungen – man spricht hier von „Inflamm-Aging“. Die gestörte bzw. geminderte Regenerationsfähigkeit und das „Inflamm-Aging“ spielen eine signifikante Rolle im Alter bei der Entstehung entzündlicher Prozesse des Zentralen Nervensystems (ZNS), wie der Multiplen Sklerose.
Die geschwächte Immunkompetenz im Alter (Immunoseneszenz) führt zur Abnahme von protektiven T-Zellen und zu einer Zunahme von zytotoxischen T-Zellen. Dazu kommt ein Anstieg an Zytokin-Ausschüttung. Diese Konstellation kann zu einer chronischen Entzündung im zentralen Nervensystem im Alter führen.
Auf der anderen Seite zeigt sich eine deutlich reduzierte Regenerationsfähigkeit neuronaler Zellen im Alter, und somit auch eine deutlich verminderte Remyelinisierung. Auch im Hinblick auf den Behinderungsgrad zeigt sich hier konsekutiv eine schnellere Progression als bei Betroffenen in jüngeren Jahren.
Welche spezifischen Herausforderungen können ältere Menschen mit MS erleben, die sich von denen jüngerer Patienten unterscheiden?
Die Multiple Sklerose stellt bei älteren Menschen eine besondere Herausforderung dar, da sie oft mit anderen Erkrankungen einhergeht. Bei neu auftretenden neurologischen Ausfällen müssen wir daher auch an andere Krankheiten denken. Gangstörungen, Koordinationsstörungen, Sensibilitätsstörungen und Gedächtnisstörungen können im Rahmen von anderen Erkrankungen wie Schlaganfällen und Demenzen oder bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen und dissoziativen Störungen auftreten.
Auch Blasenstörungen können durch Prostataerkrankungen verursacht werden. Zudem kann die Krankheit schneller zur Pflegebedürftigkeit führen. Viele Betroffene leiden unter depressiven Symptomen wie Antriebsarmut, Kraftlosigkeit, Müdigkeit, Stimmungsschwankungen, innerer Leere und Schlafstörungen. Diese Symptome beeinträchtigen die Lebensqualität erheblich und können durch die MS-Erkrankung verstärkt werden.
Ältere Menschen sind oft körperlich eingeschränkt und sozial isoliert, was durch zusätzliche Erkrankungen wie kardiovaskuläre Krankheiten noch verschärft wird. Ein weiterer Aspekt betrifft die nichtmedikamentöse Therapie. Ergotherapie und Physiotherapie sind wichtige Bestandteile der symptomatischen Behandlung von MS. Im Alter können diese Angebote jedoch aufgrund von Einschränkungen und ländlichen Strukturen oft nicht wahrgenommen werden. Die Betroffenen sind darauf angewiesen, dass Therapeuten zu ihnen nach Hause kommen oder sie zu den Therapeuten gebracht werden – beides ist oft nicht möglich. Dies führt zu Nachteilen in der Behandlung älterer Menschen mit MS, die bei jüngeren Patienten in diesem Ausmaß nicht existieren.
Therapieoptionen
Die Behandlung älterer Menschen mit Multipler Sklerose stellt eine besondere Herausforderung dar, da das Immunsystem im Alter anfälliger für Infektionen ist und daher bei der Anwendung von Medikamenten wie Cortison besondere Vorsicht geboten ist. Zudem fehlen uns Daten zur Wirksamkeit moderner MS-Therapien ab dem 60. Lebensjahr, da diese Altersgruppe in den Zulassungsstudien selten berücksichtigt wurde.
Trotzdem wird auch im höheren Alter therapiert, basierend auf Erfahrungen oder intuitiv, da moderne MS-Therapien Schübe verhindern und somit die Progression einer durch Schübe verursachten Behinderung verlangsamen können. Es ist bekannt, dass hocheffektive Therapien im Alter die Progression verzögern können. Daher wird empfohlen, so früh wie möglich mit der Therapie zu beginnen. Die Dauer der Therapie und der Zeitpunkt ihres Abbruchs müssen jedoch individuell bewertet werden, da es kaum Studien dazu gibt. Sollte die Therapie abgesetzt werden, sind engmaschige neurologische Kontrollen unerlässlich.
Ältere Menschen mit MS profitieren zudem von einer multimodalen Therapie, die unter anderem Physiotherapie, Ergotherapie sowie modernere Verfahren wie transkranielle Magnetstimulation, Virtual-Reality-Technologien und robotergestützte Gehtherapie umfasst. Das Ziel dieser Therapien ist es, Schübe zu verhindern und die Progression der Behinderung zu verlangsamen. Während Schübe relativ gut behandelt werden können, führt jede erfolgreiche Therapie eines Schubes nicht zu einer vollständigen Remission. Stattdessen bleiben nach jedem Schub Restdefizite zurück, wie zum Beispiel eine leichte Zunahme kognitiver Beeinträchtigungen.
Die aktuellen Therapien können MS nicht heilen, aber sie können den Krankheitsprozess verlangsamen und den Betroffenen eine gute Lebensqualität ermöglichen. Es ist wichtig zu betonen, dass je mehr Schübe auftreten, desto mehr bleibende Defizite entstehen und desto schneller schreitet die Krankheit in Bezug auf den Grad der Beeinträchtigungen und möglichen Behinderungen voran.
Ratschläge für ältere Menschen mit MS zur Verbesserung der Lebensqualität
Für Menschen, die mit Multipler Sklerose alt werden, gibt es viele Möglichkeiten, um Vorkehrungen zu treffen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Eine Möglichkeit könnte im beruflichen Bereich liegen, wo ein Berufswechsel sowohl hilfreich als auch existenzsichernd sein kann. Eine frühzeitige Behandlung der Erkrankung ist ebenso wichtig und kann durch verschiedene Therapien ergänzt werden. Sport, Physiotherapie und Schwimmen sind einige Beispiele für Aktivitäten, die das Immunsystem stärken können. Eine gesunde Ernährung spielt ebenfalls eine wesentliche Rolle bei der Stärkung des Immunsystems.
Es ist auch wichtig, familiäre Strukturen entsprechend aufzubauen und Umbauten im Wohnbereich vorzunehmen. Dies ermöglicht es den Betroffenen, trotz der Progression der Erkrankung, in ihrem häuslichen Umfeld weiterleben zu können. Mit der Zeit lernen viele Menschen mit MS, mit ihrer Erkrankung umzugehen. Dies betrifft nicht nur sie selbst, sondern auch ihr Umfeld. Insgesamt führt dies zur Aufrechterhaltung der Teilhabe am Leben und zu einer entsprechenden Lebensqualität.
Die Art und Weise, wie man sich auf das Altwerden mit MS vorbereitet, hängt natürlich von der spezifischen Form der MS ab. Wenn die Erkrankung bereits in jungen Jahren manifest wird, kann man sich darauf vorbereiten. Wenn sie jedoch erst im Alter auftritt, kann die Situation für die Betroffenen sehr schwierig sein. In solchen Fällen ist Aufklärung erforderlich sowie der Aufbau von neuen und altersgerechten Anlaufstellen und Studien.