Das Pflaster auf seinem Auge trägt Marwin unfreiwillig, aufgrund eines diagnostizierten Mikroschielens. Wird diese Fehlbildung ignoriert, würde er auf einem Auge erblinden. Hinter den zwei markanten Ohren „sitzen“ zwei Hörgeräte, die dem ihm helfen, seine Umwelt wahrzunehmen. Die großen Schneidezähne sind für den kleinen Kinderkiefer zu gross.
Hinter dem ersten Eindruck vom verspielten Piraten, verstecken sich diagnostizierte Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensprobleme und Hyperaktivität. „Marwin ist aufgrund seiner Erkrankung ein Überraschungspaket“, sagt seine Mutter Natascha. „Wie er sich entwickelt, können wir nicht abschätzen. Es kommen immer wieder neue Diagnosen dazu; vor kurzem eine Autismus-Spektrum-Diagnose und eine Zöliakie“, fügt sie hinzu. Viele Abklärungen sind am Laufen.
KBG-Syndrom – eine Krankheit mit vielen Facetten
Marwin leidet am KBG-Syndrom, einer Mutation im Gen ANKRD11 auf dem Chromosom 16. Die Krankheit wurde 1975 zum ersten Mal diagnostiziert. Entwicklungsverzögerung, Verhaltensprobleme, Einschränkungen des Hör- und Sehvermögens, Herzfehler, Skelettanomalien, Epilepsie und Kleinwuchs können bei Betroffenen auftreten.
Es gibt weder eine Behandlung noch ein Handbuch. Das Syndrom hat verschiedenste Gesichter – von körperlichen Beschwerden, über Entwicklungsverzögerungen bis hin zur geistigen Behinderung. Typisch für das KBG-Syndrom sind die dreieckige Gesichtsform, die hohe Stirn, die großen Schneidezähne und die abstehenden Ohren. Kleinwuchs, Verformungen der Wirbelsäule und der Rippen aber auch Anomalien an den Händen können auftreten.
Heute sind weltweit etwa 550 Fälle bekannt; drei davon in der Schweiz, wo Marwin und seine Familie leben. KBG hat nichts mit dem sowjetischen Geheimdienst KGB zu tun, sondern steht für die Initialen der ersten drei Familien mit gesicherter Diagnose.
„Marwin kann Reize schlecht filtern und gewichten“
Rein äußerlich ist ein KBG-Syndrom – so wie bei Marwin – für Laien kaum erkennbar. Das Verständnis den betroffenen Kindern und ihrem auffallenden Verhalten gegenüber ist entsprechend klein. „Marwin kann Reize schlecht filtern und gewichten“, fassen seine Eltern Natascha und Martin zusammen.
Risiken einschätzen oder Prioritäten erkennen, sind für den Siebenjährigen schwer. Marwin springt zum Beispiel spontan auf die Straße, um dem heranbrausenden Lastwagen winken zu können. Er taucht so lange im Pool, bis er vor Erschöpfung zu ertrinken droht. Wenn Marwin sich beim Basteln mit einer Schere verletzt, fällt es ihm erst auf, wenn er stark blutet. Schmerz empfindet er mit Verzögerung und erst ab einer gewissen Intensität. Ob es seinem Lieblingsplüschtier schlecht geht oder seiner kleinen Schwester macht für ihn keinen Unterschied. „Marwin braucht jemanden an seiner Seite, der ihm Grenzen aufzeigt und hilft, Dinge zu gewichten“, erklärt Mutter Natascha.
„Die Diagnose war eine Erlösung“
Seit Marwins Geburt weigern sich seine Eltern, ihren liebenswerten und aktiven Sohn auf seine Defizite zu reduzieren. Abklären lassen sie ihn erst mit zweieinhalb Jahren. Die Diagnose KBG-Syndrom erhalten sie ein Jahr später. „Die Diagnose war eine Erlösung. Nun wussten wir endlich, was ihm fehlt. Auf der anderen Seite begann damit die Suche nach Informationen und Fachleuten“, erinnert sich Natascha.
Doch die fehlen bis heute. Es gibt weder ein Handbuch noch Erfahrungswerte betreffend Behandlungen und Therapien. Natascha und Martin tauschen sich mit KBG-Betroffenen über eine Facebook-Gruppe aus. „Wir haben ein A4-Blatt mit allen Komplikationen, die bei KBG-Kindern gehäuft auftreten und ergänzen es laufend. Das ist unser Leitfaden“, sind sie sich einig.
„Bewusst entschieden, ihn allein zu betreuen“
Die beiden recherchieren, gewichten und entscheiden schlussendlich selbst, welche Untersuchungen und Abklärungen sie durchführen werden. Natascha und Martin sind heute nicht nur Ehepartner und Eltern von zwei Kindern, sondern auch ein KBG-Expertenteam und eine 24-Stunden-Taskforce. „Marwin hat schon als Kleinkind viel Betreuung gebraucht. Außer uns war niemand da, um diese enormen Präsenzzeiten abzudecken. Wir haben uns bewusst für Marwin und genauso bewusst dafür entschieden, ihn allein zu betreuen“, machen die beiden klar.
Wenn sie Unterstützung brauchen, finden sie diese Online bei anderen betroffenen Familien. Die Betreuungsstrukturen der Familie haben sich in den vergangenen Jahren verändert. Marwin hat im Sommer 2022 mit der 1. Klasse in der Dorfschule begonnen – unterstützt von Logopädin und Klassenassistenz. Seine jüngere Schwester geht in den Kindergarten. Die außerschulische Betreuung der Kinder teilen sich immer noch Martin und Natascha.
Abends sind die Energiespeicher der Eltern leer
Vater Martin arbeitet in einem 50-Prozent-Pensum im Schichtbetrieb, oft am Wochenende. Er startet um 4 Uhr morgens und kommt dafür am Mittag nach Hause. Mutter Natascha arbeitet mit einem 80-Prozent-Pensum bei einer Versicherung. „Der entscheidende Punkt ist die Kommunikation“, sagt Martin und ergänzt: „Es ist wichtig, sich abzusprechen und auch bewusst Dinge liegen zu lassen.“ In der PCIT-Familientherapie (Parent-Child Interaction Therapy) haben sie gelernt, nicht nur Marwin, sondern auch sich als Paar und Familie zu stärken.
„Es ist klar, dass Marwin meist im Zentrum steht. Ich verbringe aber bewusst Zeit allein mit seiner jüngeren Schwester Quinn“, betont Natascha. Zeit als Paar oder für sich allein bleibt kaum. „Für mich stellen die ruhigen Mittagessen während meiner Arbeitswoche oder mal eine Joggingrunde eine Pause dar“, sagt Natascha. Am Abend, wenn die Kinder im Bett liegen, sind die Energiespeicher von Martin und Natascha leer. Dabei würden dann das Bearbeiten von Unterstützungsanträgen und das Studium nächster Abklärungen für Marwin anstehen.
„Außenstehende scheinen ihn als unerzogenes Kind einzuordnen“
Wenn Natascha und Martin an ihre Grenzen stoßen, springen die Großeltern der Kinder ein. Die räumliche Distanz zu ihnen, den Geschwistern und auch den Freunden ist groß. Weite Wege und viele Veränderungen bringen Marwin durcheinander und führen zu Reizüberflutungen und emotionalen Ausbrüchen. Mal „schnell irgendwohin“ gehen, überfordert Marwin und sein Umfeld. Sicherheit und Stabilität schaffen sich wiederholende Strukturen, Abläufe und Rituale.
Der Kontakt zu Freunden hat zu Coronazeiten stark gelitten. Das direkte Umfeld – Nachbarn, Bekannte oder Eltern aus dem Kindergarten – reagieren auf Marwin mit Distanz. „Kommentare und Beschwerden über Marwins Verhalten gelangen nie auf direktem Weg zu uns, sondern immer über Umwege“, beobachten Natascha und Martin. „Uns direkt anzusprechen, scheint eine riesige Hemmschwelle darzustellen. Außenstehende scheinen ihn als unerzogenes Kind und uns als unfähige Eltern einzuordnen. Damit ist für die meisten die Sache erledigt.“
Natascha und Martin wünschen sich eine direktere Kommunikation, eine Gesellschaft, welche Diversität zulässt und eine Anlaufstelle, die Unterstützungsangebote und Hilfe klar und einfach zugänglich macht. Marwin selbst kümmert dies wenig. Er ist glücklich. Die Aufmerksamkeit und die regelmäßigen Termine gefallen ihm. Zuhause im riesigen Garten kann er sich und seiner Energie und Fantasie freien Lauf lassen: Eine Statue aus Holz bauen, ein Radio auseinanderschrauben, im Sandkasten spielen, in Fantasiegeschichten eintauchen und sie ununterbrochen nachsprechen, bei der Gartenarbeit helfen, im Pool plantschen und dabei ausgelassen, laut und glücklich sein.
von Christa Wüthrich
Der Beitrag erschien zuerst im „Wissensbuch“ des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten.