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    Türkei begehrt auf – wir sollten stolz sein!

    Berlin/Essen. Unser Autor stammt aus Gelsenkirchen und hat türkische Wurzeln. Die Massenproteste gegen Recep Tayyip Erdogan wecken eine Hoffnung in ihm.

    Ging Recep Tayyip Erdogan dieses Mal zu weit? Über zwei Millionen Türkinnen und Türken demonstrierten am Wochenende in Istanbul gegen die Verhaftung seines politischen Konkurrenten Ekrem Imamoglu. Wieder war es Imamoglus Ehefrau Dilek, die mutig auftrat und zum politischen Kampf gegen den türkischen Staatspräsidenten aufrief. Auch in Deutschland blicken Menschen mit türkischen Wurzeln sorgenvoll auf das Land und die Reste der Demokratie. Wie unser Kollege Sinan Sat, geboren in Gelsenkirchen und Regionalchef bei der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ (WAZ). Hier schildert er seine ganz persönlichen Gedanken zum Freiheitskampf der jungen Türkinnen und Türken:

    Ich habe Tränen in den Augen, meinen ganzen Körper überzieht eine Gänsehaut, wenn ich die Demonstrationen überall in der Türkei sehe – auf den Straßen und Plätzen, in den Universitäten und Schulen, in den Fußball-Fankneipen, den Parks und Bussen und Bahnen. Ich bin gerührt, fasziniert und stolz.

    Gerührt, weil die Sehnsucht nach FreiheitGerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, die über die Jahrzehnte so viele Opfer gefordert hat, sich nicht ersticken lässt – nicht von den Pfeffergas-Rauchschwaden der Polizei, nicht von der allgegenwärtigen Gefahr, eingesperrt zu werden, nicht von den Schlagstöcken und Gummigeschossen.

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    Türkei: Junge Generation kämpft für Würde, Sicherheit und Freiheit

    Ich bin fasziniert von einer Generation, die aufbegehrt, einzufordern, was das Wertvollste im Leben ist: in Würde, Sicherheit und Freiheit in einer echten Demokratie zu leben!

    In einer Zeit, in der die Welt vielerorts von selbstgerechten Alleinherrschern regiert wird, in der selbst die ältesten Demokratien kaum wiederzukennen sind, macht sich die türkische Jugend auf, der Autokratie ein Ende zu setzen. Ich bin fasziniert von der schier unendlichen Kreativität der Proteste, den markdurchdringenden, witzigen Liedern, die diese jungen Menschen schreiben und zu Zehntausenden singen. Ich bin fasziniert vom Mut und dem unverstellten Blick dieser Generation, die ihr Leben lang nur dieses Regime kennt und damit groß geworden ist, wie alles und jeder, der ihm im Weg stand, weggesperrt wurde, während sich Erdogan von Gesetzesänderung zu Gesetzesänderung mehr und mehr Macht einverleibte.

    Längst geht es bei den Protesten nicht mehr alleine um die Inhaftierung Ekrem Imamoglus, den Istanbuler Bürgermeister und aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten der CHP. Auf den Straßen der Metropolen und Städte stellen sich Millionen Menschen dem Regime gegenüber, weit über Parteigrenzen hinaus. Menschen, die frei sagen und leben wollen, was und wie es ihnen gefällt – einzeln wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald, so wie es der türkische Schriftsteller Nazim Hikmet einst schrieb.

    Lesen Sie den Kommentar: Erdogans Rivale in U-Haft: Imamoglu ist nur der Anfang

    Türkei: Proteste gegen Erdogan – es schmerzt, wie er mit dem Leben der Menschen spielt

    Ich bin stolz auf diese Jugend, die es nicht scheut, aufs Spiel zu setzen, ohne das kein Leben Sinn macht: ihre Unversehrtheit. Sich diesem Regime entgegenzustellen, kann jederzeit die schwerste aller Konsequenzen bedeuten. Schon seit der 68er-Bewegung hängten oder verhafteten die Machthabenden unzählige Menschen, die für eine bessere, demokratischere, wahrhaft rechtsstaatliche Türkei eintraten. Die Menschen, die jetzt sagen, es reicht(!), wissen um all das – und nehmen es in Kauf.

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    Ich bin stolz auf die wenigen Journalistinnen und Journalisten in der Türkei, die trotz der jahrelangen Repressionender Inhaftierungen und der Zerstörung von Existenzen, weiterhin ihrem Beruf alle Ehre machen. Sie kämpfen heroisch mit Stift und Block, mit Kamera und Mikrofon für die Wahrheit. Wo andere in der Türkei Pinguin-Dokus zeigen, senden sie ihre Bilder von den Protesten in die Welt. Ihre Arbeit, ihr Mut, ihr Selbstverständnis sind gar nicht hoch genug zu würdigen – in der Türkei und überall dort, wo die Mächtigen versuchen, unseren Blick zu trüben oder gar gänzlich zu verstellen.

    Ich bin aber nicht nur fasziniert und stolz. Es schmerzt mich auch zu wissen und zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit Erdogan Menschen wegsperrt, mit ihrem Leben spielt, Justiz und Polizei zu seinen persönlichen Vollstreckungsbehörden reduziert hat. Erdogan mag international von kaum einem Regierungschef besonders gemocht werden, Europa ist aber nach den Trumpschen Eskapaden abhängiger denn je vom wankelmütigen Staatschef mit der zweitgrößten Streitmacht in der Nato, der den Schlüssel in der Hand hält, Europa mit neuen Flüchtlingsströmen weiter zu destabilisieren.

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    Türkei: Vielleicht wird die Sehnsucht eines großen Schriftstellers nun wahr

    Die Menschen in der Türkei sind auf sich allein gestellt. Es ist allein deshalb schon kaum vorstellbar, dass von der scheidenden und der künftigen Bundesregierung mehr als „Besorgnis“ zu hören sein wird. Das ist nicht die Sprache, die Erdogan spricht. Würde man deutsche und europäische Unternehmen aber vor Investitionen in der Türkei warnen, das würde der türkische Präsident nicht überhören können.

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    Und dennoch: Vielleicht ist dies nun die dunkelste Stunde in der jüngeren Geschichte der Türkei. Die Stunde, nach der langsam wieder die Sonne aufgeht – wenn das Volk erwacht und sich nicht länger in der Dunkelheit einsperren lässt.

    Vielleicht wird Nazim Hikmets Sehnsucht wahr: „Abzuschaffen die Knechtschaft des Menschen durch den Menschen! Das ist unsere Einladung. Leben! Einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht!“

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