Der Deutsche Turner-Bund lässt die Missstände an Stützpunkten untersuchen. Athletinnen sollen zu Gesprächen eingeladen werden, die Kosten für einen Rechtsbeistand müssten sie selbst tragen.
“Mehr Teams. Mehr Tage. Mehr Turnen.” Mit diesem Slogan wirbt der Schwäbische Turnerbund (STB) auf seiner Homepage für den diesjährigen DTB-Pokal. Bei seiner 40. Ausgabe wird diese hochkarätige Turn-Veranstaltung erstmals an vier Tagen (27. – 30. März) stattfinden.
Doch in diesem Jahr liegt ein Schatten über dem Event. Nachdem seit Jahresende ehemalige und aktive Spitzenturnerinnen Missstände vor allem an den Stützpunkten in Stuttgart und Mannheim öffentlich gemacht hatten, bemüht sich der Deutsche Turner-Bund (DTB) um Schadensbegrenzung, die Rückgewinnung von Vertrauen und um eine Aufarbeitung.
Der Verband kündigte eine Untersuchung und eine lückenlose Aufklärung an. Mit dieser Durchführung einer “externen und unabhängigen Untersuchung der Vorwürfe” wurde im Januar die Frankfurter Rechtsanwaltskanzlei Rettenmaier beauftragt. Der DTB schrieb Turnerinnen an und fragte, ob sie bereit seien, an Gesprächen mit der Kanzlei teilzunehmen.
Machtmissbrauch und psychische Gewalt im Turnen
DTB-Schreiben an Turnerinnen: Fehlender Hinweis auf Freiwilligkeit
Die Kanzlei teilte dem SWR mit, von ihrer Seite nähmen “grundsätzlich ein Mann und eine Frau an einem solchen Gespräch teil.” Die Ergebnisse der Untersuchung würden später in einem Sachbericht zusammengefasst. Dieser ginge sowohl an den DTB als auch die Staatsanwaltschaft Stuttgart. Deshalb müsse die Untersuchung “von strafrechtlich erfahrenen Rechtsanwälten” durchgeführt werden.
Der DTB informierte die Athletinnen in seinem Schreiben auch darüber, dass bei der Befragung nicht nur Rechtsanwälte, sondern auch eine – namentlich nicht genannte – Sportpsychologin anwesend sei. Auf die Freiwilligkeit der Teilnahme wurden die Athletinnen in dem DTB-Schreiben nicht hingewiesen. Auch nicht auf die Möglichkeit, einen eigenen Anwalt als Zeugenbeistand mitzubringen.
Ermittler durchsuchen Räume von Landessportverband und Olympiastützpunkt
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt nach wie vor mit Nachdruck wegen des Verdachts der Nötigung in mehreren Fällen. Das Verfahren richtet sich gegen einen ehemaligen Trainer am Kunst-Turn-Forum Stuttgart.
Am Dienstag, 11. März, durchsuchten nach SWR-Informationen mehrere LKA-Beamte auch Teile der Geschäftsräume des Landessportverbands BW (LSVBW) und des Olympiastützpunkts (OSP) Stuttgart. Keine Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter des LSV und des OSP sind Beschuldigte im laufenden Verfahren. LSVBW und OSP unterstützen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart und begrüßen die damit verbundene strafrechtliche Klärung der Vorwürfe.
Im Zuge der Ermittlungen waren bereits am 6. Februar Maßnahmen beim Deutschen Turner-Bund (DTB) in Frankfurt durchgeführt worden. Beamte des Landeskrimininalamts BW (LKA) haben inzwischen auch schon Gespräche mit (betroffenen) Turnerinnen geführt.
Diese Informationen sollen gesprächsbereiten Athletinnen in einem separaten Schreiben der Kanzlei offenbar nachgereicht werden. Auf SWR-Nachfrage teilte der DTB mit: “Athletinnen werden folglich mehrfach schriftlich und mündlich auf die Freiwilligkeit der Teilnahme durch die Kanzlei Rettenmaier hingewiesen werden.”
DTB will keine Kosten für Rechtsbeistand der Turnerinnen übernehmen
Einige Turnerinnen scheinen grundsätzlich bereit zu sein, dieses Gesprächsangebot anzunehmen. Allerdings möchten manche von ihnen solche Befragungen nur mit Unterstützung eines mandatierten Rechtsbeistands durchführen. Dazu gehört auch Michelle Timm. Die 27-Jährige ist aktuell als Trainerin angestellt und war eine derjenigen, die aktuelle Missstände am Stützpunkt in Stuttgart angeprangert hatten. Timm wird juristisch vom Münchner Anwalt Julian Ackermann vertreten.
Durch diesen ließ sie beim DTB anfragen, ob der Turnverband die Kosten für die Tätigkeit des Anwalts als ihr Zeugenbeistand während der Befragung durch die Kanzlei Rettenmaier übernehmen würde. Ackermann, Fachanwalt mit Schwerpunkten im Wirtschaftsstrafrecht, Sportstrafrecht und Cybercrime, bestätigte gegenüber SWR Sport, “dass seitens des Verbands hierfür keine Verpflichtung gesehen wird. Eine nähere Erläuterung erfolgte nicht.”
Diese Erklärung reichte der Deutsche Turner-Bund nun auf SWR-Nachfrage nach. Der DTB weist darauf hin, dass die Vorwürfe, die Gegenstand der anwaltlichen Untersuchung seien, sich nicht gegen die Athletinnen richteten. “Diese müssen daher auch nicht befürchten, infolge der Untersuchung seitens des DTB mit negativen Konsequenzen belegt zu werden.”
Anwalt von Michelle Timm: “Übernahme der Kosten aus meiner Sicht üblich”
Unter diesen Umständen sei es weder erforderlich noch üblich, “dass der DTB die Kosten eines anwaltlichen Beistands übernimmt.” Auch bei internen Untersuchungen (etwa in Unternehmen) sei es nicht üblich, dass das Unternehmen die Kosten des anwaltlichen Beistands übernimmt, wenn die Mitwirkung an einer Untersuchung auf rein freiwilliger Basis erfolge und die betreffende Auskunftsperson (wie die – ehemaligen oder aktiven – Athletinnen) nicht der Gefahr ausgesetzt sei, sich selbst zu belasten oder infolge der Untersuchung sanktioniert zu werden.
Stuttgart
Verband sieht “mögliches Fehlverhalten”
Immer mehr Turnerinnen erheben heftige Vorwürfe gegen den DTB und den STB
Die ehemalige Stuttgarter Spitzenturnerin Tabea Alt wirft Trainern und Verbänden vor, ihre Gesundheit “gezielt aufs Spiel gesetzt” zu haben. Auch weitere Sportlerinnen wie Carina Kröll, Michelle Timm und Kim Bui melden sich zu Wort.
Sa.28.12.2024
18:40 Uhr
Sport kompakt
SWR1 Baden-Württemberg
Timms Anwalt Ackermann blickt anders auf diese besondere und wohl auch emotional belastende Gesprächssituation für eine Sportlerin. “Aus meiner Sicht ist die Begleitung durch einen eigenen Rechtsbeistand/Zeugenbeistand zu den Interviews ein absolut nachvollziehbares Anliegen. Auch ist die Übernahme der Kosten für Zeugenbeistände durch den Auftraggeber der Untersuchung aus meiner Sicht völlig üblich.”
Haltung des DTB sorgt für Skepsis
Der DTB will die Kosten für Rechtsbeistände von Turnerinnen aber nicht übernehmen. In der Konsequenz hieße das: Entweder müssten die (oft noch jungen) Sportlerinnen die hohen Kosten für ihre Anwälte selbst tragen, oder sie kämen allein bzw. mit einer Vertrauensperson zum Gespräch, oder sie lehnen die Einladung zu dem Gespräch ab. Rechtsanwalt Ackermann kann die Haltung des DTB nicht nachvollziehen: “Aus meiner Sicht wirft das Verhalten des Verbandes die Frage auf, wie ernsthaft man an einer lückenlosen Aufklärung und Aufarbeitung der im Raum stehenden Vorwürfe interessiert ist.”
Ob Michelle Timm unter diesen Voraussetzungen die Einladung zum Gespräch annehmen wird, ist offen. Sie habe viel drangesetzt, sagt sie gegenüber SWR Sport, dass sich diesem Thema vollumfänglich gewidmet werde. Man habe den Aussagen und Versprechen Glauben geschenkt. “Vor allem war ich persönlich dazu bereit, erst einmal abzuwarten und dem Ganzen die nötige Zeit zu geben.” Aus ihren Worten klingen Enttäuschung und Ernüchterung: “Mit jeder Woche, die vergeht, bekomme ich zunehmend das Gefühl, dass es den Willen zur Aufarbeitung und Verbesserung nicht gibt.” Sie fügt hinzu:
Es macht einfach den Eindruck, als würde man es wieder aussitzen wollen.
Offensichtlich ist Timm nicht die Einzige, die der Aufarbeitungsstrategie des DTB mittlerweile mit viel Misstrauen begegnet. Eine Petition, die die ehemalige Spitzenturnerin Janine Berger vor einigen Wochen auf den Weg gebracht hatte und in der die Unabhängigkeit der Frankfurter Kanzlei angezweifelt wird, haben mittlerweile fast 25.000 Personen (Stand: 12.03.2025) unterzeichnet.
Das Vertrauen in den DTB scheint bei vielen Turnerinnen aufgebraucht
Die Kanzlei, die im Auftrag des DTB bereits 2021 die Vorkommnisse am Stützpunkt in Chemnitz untersucht hatte, nimmt die Kritik ernst, stellt aber klar: “Die Untersuchung in Chemnitz war neutral und hat zu einer Vielzahl wertvoller Erkenntnisse geführt. Unsere Kanzlei war seither nicht mehr für den DTB tätig. Keiner unserer Mitarbeiter*innen ist mit einem Mitarbeiter/Funktionär des DTB befreundet.” Die aktuelle Untersuchung erfolge “in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft Stuttgart; ihr werden die Ergebnisse ebenfalls zugänglich gemacht.”
Dennoch scheint das Vertrauen in die Vorgehensweise des DTB teilweise aufgebraucht. Nicht nur viele Sportlerinnen, auch das baden-württembergische Sportministerium zweifelt offenbar an einer erfolgreichen und lückenlosen Aufarbeitung der Missstände durch den DTB. Nach SWR-Informationen arbeitet der Landessportverband BW auf Wunsch des Sportministeriums bereits mit Hochdruck an konkreten Plänen für eine eigenständige Aufarbeitung. Der DTB weist gegenüber dem SWR jedoch darauf hin, dass das Ministerium bei der Erläuterung des eigenen Konzepts “keine Bedenken geäußert” habe. Das Ministerium habe allerdings eine noch stärker auf Baden-Württemberg fokussierte Aufarbeitung für erforderlich gehalten. “Dies halten wir für nachvollziehbar”, schreibt der DTB.
Nicht nur Michelle Timm scheint einer Aufarbeitung durch den Landessportverband BW eher zu vertrauen. “Ich setze nun viel Hoffnung in die Arbeit des Schwäbischen Turnerbundes und aller dazugehörigen Stellen, sodass wir vielleicht irgendwann ein positives Beispiel sein können und vor allem als Vorbild vorangehen.”