Maskenpflicht, Lockdowns, Schulschließungen, Testpflicht. Das Coronavirus führte in vielen Ländern zu behördlichen Maßnahmen aller Art. Schweden folgte einem ganz eigenen Weg, angeleitet vom Chef-Epidemiologen Anders Tegnell. Der Arzt und Infektionsspezialist hielt nichts von Lockdowns wie sie in Deutschland stattgefunden hatten. Alle paar Wochen Schulen zu öffnen und wieder zu schließen, das möge theoretisch gut klingen, sei in der Praxis allerdings schwierig, sagte er 2020 der Nachrichtenagentur „Tidningarnas Telegrambyrå“. In seinem Buch „Der andere Weg“ erzählt Anders Tegnell von seiner speziellen Corona-Strategie. Ein Auszug.
Mein Vater, der in den 1930er-Jahren auf die Welt kam, hatte eine prägende Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg: Eines Tages wurde seine Schule zu einer Flüchtlingsunterkunft. Daran erinnerte er sich am deutlichsten vom Krieg. Was wir von einer Krise in Erinnerung behalten, hängt, glaube ich, davon ab, wer wir während der Krise waren, was wir taten und was uns geschah.
All die Schülerinnen und Schüler, die 2020 vom Gymnasium abgingen, werden sich wohl daran erinnern, dass sie ihr Abitur nicht feiern durften. An vielen Arbeitsstellen erinnert man sich an den Zeitpunkt, ab dem alle anfingen, von zu Hause zu arbeiten. In der Altenpflege wird man erst spät vergessen können, wie schwierig es war, die Allerschwächsten zu schützen. Restaurantbesitzer erinnern sich an die Herausforderung, ohne Gäste zu überleben. Die Kulturbranche und die Sportwelt erinnern sich an die Herausforderung, ohne Publikum zu überleben.
Im Gesundheitswesen erinnert man sich mit Sicherheit an das Gefühl, Woche für Woche am Rande des Zusammenbruchs zu stehen und kein Ende in Sicht zu haben. Tausende Schwedinnen und Schweden werden sich daran erinnern, wie ihre Angehörigen plötzlich von einer neuen Krankheit aus dem Leben gerissen wurden.
105 Gesundheits-Pressekonferenzen
Ich selbst erinnere mich deutlich an einen Abend im März 2022, als ich in einem Hotel in Stockholm übernachtete, weil ich am kommenden Morgen in einer Fernsehsendung auftreten sollte. Ich war der einzige Gast im gesamten Hotel und die Rezeptionistin als Einzige vom Personal anwesend. Es war eine sehr eigenartige Erfahrung und eine Situation, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Außerdem trage ich die mehr als hundert Pressekonferenzen unserer Behörde mit mir herum. Nicht die einzelnen Termine, sondern das Phänomen als solches. Diesen festen Bestandteil meines Alltags, der manchmal ein stressgeladener Moment war, meistens aber reine Routine und eine meiner wichtigsten Arbeitsaufgaben. Ich war bei 105 der insgesamt 198 Pressekonferenzen der Schwedischen Gesundheitsbehörde FHM mit dabei.
Fremde wollten mich „neutralisieren“
Woran ich mich auch erinnere, ist diese eine E-Mail, die plötzlich aus der Menge herausstach. Ein unbekannter Absender teilte mir mit, dass mehrere Menschen beabsichtigten, mich zu „neutralisieren“. Die E-Mail enthielt sogar eine indirekte Drohung gegen meine Familie.
An einem Vormittag ging ich im Büro mein Postfach durch. Es kamen ja jeden Tag E-Mails von Privatpersonen an. Die meisten waren positive Nachrichten, manche waren mehr oder weniger kritisch, ab und zu wütend. Aber bis dahin war ich noch nie direkt bedroht worden. Bis jetzt. Es geschah kurz nach dem Hustenvorfall im März 2020. Die Episode hatte mich zum Nachdenken darüber gebracht, was als Staatsbeamter hinnehmbar ist – wie viele persönliche Angriffe musste ich mir gefallen lassen, und wo lag eigentlich die Grenze?
Ich selbst fand, dass ich eine relativ große Akzeptanz für Kritik unterschiedlicher Art hatte. Ich setzte meine Arbeit wie gewohnt fort und ging nicht auf den Hass ein. Aber jetzt von meinen Kindern zu lesen, störte mich wirklich. Das Einzige, was mir ernsthaft Angst machen kann, ist der Gedanke, dass meiner Familie etwas zustoßen könnte. Trotzdem bekam ich in diesem Moment keine Angst, denn es fiel mir schwer, die Sache ernst zu nehmen. Aber es war nicht in Ordnung. Ich wurde sauer.
Personenschützer kamen zum Kaffee vorbei
Mit solchen Situationen hatte ich keinerlei Erfahrung, weshalb ich mich an den Sicherheitsbeauftragten der FHM um Rat wandte. Er befand sofort, dass wir zur Polizei gehen mussten, um professionelle Hilfe zu bekommen. Er war nicht der Ansicht, dass wir uns selbst darum kümmern sollten. Es war ein gutes Gefühl, die Einschätzung in die Hände eines Profis geben zu können.
Die Polizei setzte eine Ermittlung in Gang, und nach einigen Tagen kamen Leute von der Personenschutzeinheit zum Kaffee zu uns nach Hause und erklärten uns auf dem Sofa, wie meine Frau und ich uns verhalten sollten. Auch meine Töchter mussten informiert werden und sollten ein Gespräch mit den Personenschützern führen. Sie wussten noch nichts über den Vorfall, da ich sie nicht hatte beunruhigen wollen. Aber jetzt baten mich die Polizisten, sie anzurufen und die Lage zu erklären.
Sie hörten aufmerksam zu und zeigten keine Anzeichen von Beunruhigung, allerdings haben sie mir später erzählt, dass sie die ganze Sache als etwas sehr Beängstigendes erlebt hatten. Unser Haus liegt isoliert, außerhalb von Linköping. Meine Frau und ich sollten uns melden, wenn uns in der Nähe des Hauses etwas Ungewöhnliches auffiel. Ich sollte meine üblichen Routinen ändern und nicht jeden Tag auf dem gleichen Weg und zur gleichen Zeit zur Arbeit fahren. Wir sollten aufmerksam gegenüber ungewöhnlich neugierigen und aufdringlichen Menschen sein. Einmal riefen wir die Polizei an, nachdem wir eine unbekannte Person ungewöhnlich nah an unserem Haus bemerkt hatten.
Polizei bot von sich aus Personenschutz an
Ich war auf der Hut, aber nie ängstlich. Sosehr ich es auch versuchte, so wenig gelang es mir, die Bedrohungen gegen mich ernst zu nehmen. Es konnte mir doch niemand ernsthaft schaden wollen, dachte ich. Vielleicht war ich naiv. Im Herbst 2020 meldete sich die Polizei dann selbst bei mir und bot mir plötzlich Personenschutz an. Zwei Kerle sollten mich überallhin begleiten. Sie erklärten, dass es nicht um mich persönlich ging, sondern dass ich eine Person des öffentlichen Lebens geworden war. Bei solchen lag immer eine indirekte Gefährdungslage vor.
Meine persönliche Sicherheit ist nichts, worauf ich besonders viele Gedanken verwende. Die Personenschützer fanden, ich sollte weiter mit dem Rad fahren, um meinen Lebensstil nicht zu beeinträchtigen. Ich wusste es sehr zu schätzen, dass sie sich darauf einließen, mit dem Auto hinterherzufahren. Aber am ersten Tag radelte ich zu schnell, und sie verloren mich aus den Augen.
Sie wussten zwar, wohin ich unterwegs war, aber das reichte nicht wirklich. Ihre Frustration war mit Händen zu greifen, aber ich merkte auch, dass sie die Komik der Situation erkannten, als ich mit dem Fahrrad vor der FHM stand und auf sie wartete. Ab diesem Tag ließ ich mich darauf ein, mit dem Auto vom Stockholmer Hauptbahnhof gefahren zu werden. Manchmal vermisste ich meine Radfahrten.
Auf dem Weg zur Arbeit streckten die Leute mir manchmal einen nach oben gedrehten Daumen entgegen oder feuerten mich an, wenn ich vorbeiradelte. Besonders wertvoll waren aber die Momente, in denen ich das Fahrrad am Hauptbahnhof aufschloss. Genau dort passierte es nämlich oft: Jemand blieb am Fahrradständer stehen, bis ich nach oben blickte, grüßte mich und bedankte sich für meine gute Arbeit. Wir schauten uns in die Augen, und auch wenn diese Momente schnell vorbei waren, fühlten sie sich wie eine echte Begegnung an, inmitten all der Kontaktbeschränkungen. In den Medien gab es bisweilen massive Kritik an mir, aber nicht auf der Straße. Kein einziges Mal während der ganzen Pandemie, und auch nicht danach, ist jemand auf mich zugekommen, der wütend war.
„Tegnell für den Präsidenten“
Die Unterstützung für mich zeigte sich einige Male auf ganz unerwartete Weise. Bei einer Gelegenheit schickte meine Tochter Emily ein Foto aus Göteborg in die Whats-App-Familiengruppe. Darauf war eine Hauswand zu sehen, an der Plakate mit meinem Gesicht und dem Text „Tegnell for president“ hingen. Meine Tochter wohnt in Göteborg und sah noch mehrere andere Hauswände, die ebenfalls mit meinem Gesicht beklebt waren. Offenbar blieben sie eine ganze Weile dort hängen.
Geschäfte verkauften Tassen und Kappen mit Tegnell-Aufdruck, ein Künstler schnitzte eine Seifenbüste von mir, der Musiker und Rapper Dr. Alban schrieb einen Song über mich. Während eines Aufenthalts am Flughafen in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba wurde ich erkannt und durfte Selfies mit Leuten machen. Meine Töchter hatten oft etwas an meiner Kleidung bei den Pressekonferenzen auszusetzen und sagten, dass ich mir mehr Mühe geben sollte. Daher fanden sie es natürlich wahnsinnig witzig, als auf einmal von der „Tegnell-Mode“ die Rede war und die Zeitungen über meinen entspanntlässigen Kleidungsstil schrieben.
Dass ich überhaupt einen eigenen Kleidungsstil hatte, wäre mir niemals in den Sinn gekommen. Aber in der Zeitschrift Café gab es einen Artikel mit der Überschrift „So klaust du den Style unseres Staatsepidemiologen und Landesvaters Anders Tegnell“. Sie hatten unter anderem ein Bild von einem Tag gefunden, an dem ich zufällig rote Hosen zu einem roten Pullover trug, und rieten zu einem „weinroten Ganzkörperanzug“.
Manche kritisierten mich dafür und fanden es respektlos, über so ernste Dinge zu sprechen und gleichzeitig einen informellen Look zur Schau zu tragen. Aber ich trug schon seit Jahren Chinos, Polohemd und Pullover, und die Pandemie stellte keinen Anlass für mich dar, daran etwas zu ändern. Mein Aussehen ist mir ziemlich egal, und ich nehme mir immer die obersten Teile vom Stapel, es sei denn, meine Frau Margit legt mir etwas anderes heraus.
Ein Mann tätowierte sich mein Gesicht auf den Arm
Einmal trat ich mit einem Sakko auf das Podium, nachdem ich bei einem Treffen mit Behördenchefs gewesen war. Danach bekam ich sofort eine E-Mail, in der stand, dass ich in Zukunft gern auf das Sakko verzichten könne, das ungebügelte Polohemd und der Pullover seien völlig in Ordnung.
Das vielleicht Extremste im Hinblick auf die Aufmerksamkeit, die ich erfuhr, war ein Mann, der sich mein Gesicht auf den Arm tätowieren ließ. Dieses Ereignis wurde von Journalisten einer Fernsehreportage begleitet. Der für den Infektionsschutz zuständige Beamte in mir hielt die Sache für unangebracht, und als Privatperson muss ich zugeben, dass sich das Ganze völlig absurd anfühlte.
Wir setzen uns nicht zusammen, um über Covid-19 zu sprechen
Vielleicht hatte all der Fokus auf mich mit der Sehnsucht der Menschen nach Sicherheit zu tun. In einer Krise sucht man nach jemandem, an dem man sich festhalten oder den man beschuldigen kann. Die Pressekonferenzen mit mir waren eine Konstante in einer aufwühlenden Zeit. Vielleicht wurden sie zu einer Art modernem Lagerfeuer. Um ein solches Feuer sitzt man, erzählt und tauscht Erfahrungen aus.
Jetzt, nach dem Ende der Pandemie, müssen wir aber weiter darüber sprechen. In der Akutkrankenversorgung, bei der Feuerwehr oder der Polizei gibt es direkt nach einem dramatischen Ereignis ein Debriefing, um nochmals zu besprechen, was passiert ist. Die Beteiligten sitzen in aller Ruhe zusammen und gehen den Ereignisverlauf durch. Ziel dabei ist es, dem Einsatzpersonal zu helfen, ein stressvolles Erlebnis hinter sich zu lassen, damit sie bereit sind für neue Einsätze.
Nach dem gleichen Prinzip sollten wir als Gesellschaft jetzt eine Nachbesprechung zu Covid-19 führen. Und es ist von Wichtigkeit, es bald zu tun, wenn die Krise noch frisch in Erinnerung ist. Ansonsten wird so etwas überhaupt nicht stattfinden. Neue Probleme werden im Weg stehen. Ich will, dass wir uns daran erinnern, wie frustriert und besorgt es uns machte, dass wir nicht besser vorbereitet waren.
Aktuell, da ich diese Zeilen schreibe, sehe ich nicht, dass eine Reflexion auf gesellschaftlicher Ebene in Schweden stattfindet. Wir setzen uns nicht zusammen, um über Covid-19 zu sprechen. Es gibt keine großen Treffen mit Schlüsselakteuren aus dem Gesundheitswesen oder der Gastronomiebranche. Im staatlichen Budget sind keine Pandemiepläne zu entdecken, geschweige denn bei anderen politischen Aktivitäten.
Was bedeutet es, dass die Gesellschaft Covid-19 beiseitegelegt hat und jetzt weitermacht, als wäre nie etwas passiert? Es bedeutet, dass wir beim nächsten Mal nicht besser vorbereitet sein werden. Vor allem dann nicht, wenn es bis dahin noch ein wenig dauert und die Kompetenzen, die sich die Personen angeeignet haben, die direkt mit Covid-19 arbeiteten, aus dem System verschwunden sind. Es müssen Ressourcen dafür bereitgestellt werden, die Pandemie aufzuarbeiten.
Hinweis: Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus „Der andere Weg: Eigenverantwortung statt Zwang: Wie Schwedens Chef-Epidemiologe die Pandemie zähmte“ von Anders Tegnell